Thomas Lang: "Immer nach Hause"


Thomas Langs neuer Roman "Immer nach Hause" beschäftigt sich mit einem der bekanntesten deutschen Schriftsteller aller Zeiten. Einem Schriftsteller, der immer schon stark polarisiert hat und vor allem in den Sechzigern und Siebzigern des vorigen Jahrhunderts mit der Hippie- und Esoterikwelle harmonisiert hat. Wer der heute Dreißig- bis Sechzigjährigen hat die Bücher des Literaturnobelpreisträgers Hermann Hesse nicht in seinen Jugendjahren verschlungen? "Das Glasperlenspiel", "Der Steppenwolf", "Siddharta", "Narziß und Goldmund", "Demian" und "Unterm Rad", um nur die bekanntesten Texte des Autors zu nennen.

Thomas Lang hat sich nun daran gewagt, einen exzellent recherchierten Roman über den privaten Hermann Hesse zu schreiben. Ein ziemliches Wagnis, wenn man bedenkt, wie viel Literatur es zu Hermann Hesse bereits gibt. Nichtsdestotrotz, und das ist besonders erfreulich, ist Thomas Lang hier ein wahres Meisterwerk gelungen, das in allen Belangen volle Punkte einfährt.

"An Dr. von Schaukal,
Basel, 30.06.1903
Noch eines: würden Sie mir raten zu heiraten? Sie kennen mich ein wenig, sind Diplomat und haben selbst eine Frau. Ist es wirklich so schlimm, wie man immer hört, oder nicht?"


Tiefgehende Recherchen und Zugriff auf Briefmaterial aus dem Nachlass von Hermann Hesse erlauben ihm, ein überzeugendes Bild des Innenlebens des Autors zu zeichnen. Sein Roman ist einerseits Fiktion, andererseits aber auch Dokumentation, da er historisch bekannte Daten und Fakten verwendet, um Belegbares fiktiv zu zeichnen. Ebenso real sind die Söhne und der Bekanntenkreis Hesses, der hier vorkommt. Auch jene Häuser, die beschrieben werden, kann man besichtigen. Entweder als Museum, oder, wie im Fall des Berner Hauses, wegen der heutigen Hausbesitzer, die Führungen durch die Räume anbieten, die von Hermann Hesse und Mia Bernoulli bewohnt wurden.

Die Konzentration auf die Jahre 1904 bis 1912, denen sich der längste Teil dieses ausgezeichneten Romans widmet (der zweite Teil des Romans setzt 1918 ein), ist besonders interessant, da sie sich mit der Beziehung und Ehe Hermann Hesses mit Mia Bernoulli beschäftigen. Neun Jahre älter als der soeben mit "Peter Camenzind" erfolgreiche Hesse, ist Bernoulli selbst erfolgreiche Fotografin mit eigenem Atelier und eine für damalige Verhältnisse wirklich emanzipierte und starke Frau. Sie ziehen nach Gaienhofen am Bodensee, in ein primitives Bauernhaus, ohne Fließwasser und Strom. Letztendlich zerbricht sie an ihrer Ehe, an Hesse, der zwischen Begierde und Ablehnung pendelt, sie, die Familie und das Haus immer wieder verlässt. Fluchtartig zieht es ihn öfter weg, einmal nach München zum Verleger, dann wieder zur Kur ins Tessin. Dort ist er im Kurhotel so unzufrieden mit dem Angebot, dass er einer reißerischen Annonce folgt und sich so im bekannten "Monte Veritá" einquartiert. "Monte Veritá", ein neuartiges Anwesen, das sich durch vegetarische Küche, Luft- und Sonnenbäder von der Konkurrenz unterscheidet, ist in der damals doch eher prüden Schweiz berüchtigt, weil sich dort nackte Frauen und Männer tummeln sollen. Fein zeichnet Thomas Lang, wie sich Hesse doch auch vom frivolen Aspekt dieses Ortes angezogen fühlt und die dort gewonnenen Eindrücke seine Weltsicht inspirieren.

"Den Rest des Nachmittags verbringt er im Gastgarten des Adlers und feilt an seinem Gedicht, doch er ist nicht recht bei der Sache. Er malt sich das Stelldichein aus. Daphne Müller. Daphne wieauchimmer. Auf jeden Fall nicht Fräulein Müller, sondern Frau. Er kann nicht leugnen, dass dieser Umstand ihn beruhigt. Beinah fühlt er sich wie Don Juan."

Kleines Detail am Rande: Dort trifft Hesse auf Arnold Ehret und sieht vermeintlich den angebissenen Apfel, in den neunundsechzig Jahre später Steve Jobs, selbst Ehretist, gebissen haben soll und der danach zu einem Kultsymbol wurde. Ein kurzer Moment, in dem Thomas Lang eine einzige Brücke zu unserer Zeit schlägt.

Während Hesse Geist und Körper nährt, müht sich Mia am Bauernhof mit dem quengelnden Sohn und dem Architekten ab. Hier zeigen sich bereits die ersten Zeichen für ihre späteren Depressionen.

"Doch als er auf der Baustelle steht und die dicken Mauern sieht, den Haufen starker Balken für Stockwerk und Dach, bekommt er Angst. Er eilt durch die noch sturzlose Tür, hämmert mit bloßen Händen an die Ziegel, wirft sich mit der Schulter dagegen, dass sie schmerzt. Das Mauerwerk gibt keinen Millimeter nach. Ihrs ist das alles, denkt er: ihr Entwurf, ihr Leben. Ich will etwas ganz anderes. Er sieht sich Feuer an die Balken legen. Er sieht die Flammen aus dem nicht mal aufgeschlagenen Dachstuhl schießen ..."

Literarisch besonders gelungen ist ein erotisches Abenteuer, das Hesse auf dem Heimweg von "Monte Veritá" zu seiner Frau mit einer jungen Apothekerin hat. Feine, zurückgenommene Pinselstriche, die mehr andeuten als erzählen, mit dem Resultat, dass es dabei wirklich knistert. Chapeau!

Hesses Natur, die sich in unzähligen Neurosen äußert, führt dazu, dass Mias Depressionen immer stärker werden. Auch die Übersiedlung nach Bern und zwei weitere Söhne können weder die Ehe retten, noch Mias Depressionen abschwächen. Immer wieder muss Hesse fort, unter Anderem nach Indien. In Bern wird sie von Zeit zu Zeit in Anstalten behandelt, bevor sich das Paar zuerst 1918 trennt und dann 1923 auch scheiden lässt.

"Es stimmt, dass Mia ihren eigenen Mann schon gehasst hat, weil er sie seine völlige Ablehnung spüren ließ. Der Hass führte nur dazu, dass alles zwischen ihnen immer finsterer und härter wurde. Sie sieht das Leben nun auf eine völlig neue Weise an. Sie hofft so sehr, Hermann möchte dem schädlichen mentalen Kreislauf entrinnen. Solange er auf den Tod fixiert bleibt, auf Einsamkeit und Depression, solange wird sie sich vor ihm hüten müssen ..."

Thomas Langs Roman "Immer nach Hause" ist sicherlich kein heiter unterhaltendes Autorenporträt in Romanform, sondern ein wirklich feinfühliger Text, der sich nicht nur mit dem Innenleben eines großen Autors beschäftigt, sondern auch ein wunderbar trauriges Porträt einer starken Frau zeichnet, die nicht nur an Hesse, sondern auch an den Gepflogenheiten ihrer Zeit zerbricht. Glasklare und gleichzeitig poetische Prosa zeichnet diesen so beeindruckenden Roman aus, der wirklich durchgehend gelungen ist.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 08/2016)


Thomas Lang: "Immer nach Hause"
Berlin Verlag, 2016. 380 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Thomas Lang, geboren 1967 in Nümbrecht (NRW), lebt in München. 2002 erschien der Roman "Than", ausgezeichnet mit dem "Bayerischen Staatsförderungspreis" und dem "Marburger Literaturpreis". 2005 erhielt Lang den "Ingeborg-Bachmann-Preis" für einen Auszug aus dem Roman "Am Seil", der außerdem für den "Preis der Leipziger Buchmesse" 2006 nominiert wurde. Als Stipendiat hielt er sich u. a. in Kanada, Italien ("Casa Baldi"), den USA ("Villa Aurora") und der Schweiz auf. Neben dem fiktionalen Schreiben arbeitet er als freier Journalist, verfasst Essays und lehrt kreatives Schreiben.