György Konrád: "Gästebuch"
Nachsinnen über die Freiheit
György
Konrád, Jahrgang 1933, gehört zu den bekanntesten
ungarischen Schriftstellern und Intellektuellen. 1969
veröffentlichte er seinen ersten Roman und wurde in der Folge
in seinem Heimatland Ungarn als Dissident immer wieder mit teilweisem
oder sogar völligem, erst 1989 aufgehobenem Schreibverbot belegt.
Von 1990 bis 1993 war er Präsident der internationalen
Schriftstellervereinigung P.E.N., von 1997 bis 2003 Präsident der
Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg, seine Romane und
Essaybände wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Weniger rühmlich gestaltete sich in den letzten Jahrzehnten sein
politisches Engagement. Besonders befremdlich hierbei (nicht zuletzt
angesichts mancher schöner
Worte
in dem vorliegenden Buch) sein Eintreten für den sogenannten
dritten Golfkrieg 2003; heutzutage spricht sich Konrád unter
anderem für Kompetenzabgaben der Nationalstaaten an die
Europäische Union aus.
Warum Gästebuch? Autor und Leser mögen sich, so Konrád anfangs in seinem Vorwort, gegenseitig einladen, Zweiterer solle allerdings nicht so unhöflich sein, mehr als kleine Einblicke in die persönlicheren Bereiche des geistigen Gastgeberhauses zu erwarten. Als Gäste, regelmäßige Gäste im Bewusstsein György Konráds nämlich und zumindest für die Zeit der Lektüre auch des Lesers, könnte man auch die Problemkreise und Fragen privater und öffentlicher Natur, die das Buch zur Sprache bringt und die den Schriftsteller großteils zeitlebens beschäftigt haben, bezeichnen. Das "Gästebuch" bearbeitet sie in lauter ein- bis zweiseitigen, titeltragenden Einzeltexten, teils jüngeren Datums, teils Älteres überarbeitet oder gänzlich neugeschrieben, die in ihrer dichten Kürze und ihrer annähernd chronologisch dargebrachten Abfolge eine ungewöhnliche, wenn auch sehr europäische Form, am ehesten so etwas wie mit Romanhaftem und Tagebuchartigem kunstvoll durchzogene Essayistik, ergeben.
Naturgemäß
nicht unerwähnt bleiben die prägenden, Denken und Fühlen
des Gastgebers mitbestimmenden Faktoren und Ereignisse, die
jüdisch-ungarische Herkunft (zu gleichen Teilen, so der auch sonst um
Ausgewogenheit bemühte Schriftsteller), das Kindheitstrauma, im
letzten Moment der Deportation durch Umsiedelung aus der ungarischen Provinz nach
Budapest
entgangen zu sein, während so gut wie
alle Volksschulkameraden im Konzentrationslager umkamen, die
Befreiung im Jänner 1945, als er beinahe im letzten Moment noch
von einem Pfeilkreuzler
erschossen worden wäre, aber auch
geschmackliche Vorlieben (z.B. das Kecskeméter
Stadttor) und die eine oder
andere angedeutete Liebesgeschichte werden mit geübter Schriftstellerhand eingestreut.
Einen besonderen Schwerpunkt bilden Konráds Erfahrungen mit dem
totalitären Staat, mit seinen Repräsentanten und
Mitläufern, dem Jahre 1956,
mit Unfreiheit, Zensur und Überwachung ebenso wie mit dem Tag von
Stalins Tod, mit osteuropäischer Dissidentensolidarität,
Manuskriptenschmuggel und dem Behaupten ungebundenen Denkens.
Beim bloßen Erzählen lässt es György
Konrád
in diesem Buch jedoch selten bewenden, üblicherweise
werden die Geschichten und Beobachtungen von Reflexionen gefolgt
oder begleitet. Das können recht spezielle Themen wie etwa
die Verwandtschaft von Stadt und bürgerlichem Roman sein, oder es
sind abstrakte Begriffe wie Freiheit, Identität, Erinnerung
oder Kunst, die von verschiedenen Ausgangspunkten in Angriff genommen
werden. Manchmal entstehen dabei kluge, auf den Punkt bringende
Sätze, die Mahnung etwa, dass die
Überprüfung von
Ideen ein höherer
Wert als Loyalität gegenüber einer Partei
sei, oder die Empfehlung, der
Turnübung der Freiheit auch eine Lektion in Selbstbeherrschung
hinzuzufügen. Ausgesprochen häufig
münden und enden Konráds Ausführungen recht abrupt in Fragen, und will man diesem Buche denn gerecht werden, sollte
man sich nicht nur als höflicher Gast erweisend auf
diese Fragen einlassen, sondern dabei ihre Entstehungsgeschichte
nicht aus den Augen verlieren und dessen eingedenk sein, dass Fragen
und Hinterfragen an anderen Stellen ebensowenig verboten ist.
Konrád: "Unser
öffentlicher Dienst besteht darin, daß wir unsere
monopersonale Welt und Weltanschauung erschaffen und damit sozusagen
auch unsere Leser, Zuschauer und Zuhörer zu eigener Weltsicht
ermuntern."
So behutsam und vorsichtig der Schriftsteller auch etwas von seiner eigenen Weltsicht preisgibt, dem Schöpferischen kommt dabei ein hoher Stellenwert zu - als Staatsbürger sei er gesetzesfürchtig, als Schriftsteller nicht, heißt es. Immer wieder wird der Leser Zeuge, wie die verschiedenen Wirklichkeitsbrocken Material für den Schaffenden werden oder werden könnten, der meist als Ich, manchmal als Professor Kalligaro, des Schriftstellers alter ego aus früheren Büchern, oder noch literarischer als K. auftritt und jedenfalls zu jenen zu gehören scheint, für die das Schreiben die intensivste Art zu leben bedeutet.
(fritz; 05/2016)
György
Konrád: "Gästebuch. Nachsinnen
über die Freiheit"
(Originaltitel "Vendégkönyv")
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
Suhrkamp, 2016. 288 Seiten.
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György Konrád starb am 13. September 2019 in Budapest.
Zwei Leseproben:
Er artikuliert sich und tötet nicht
1987.
Im Osten unterliegt das Denken staatlicher. im Westen akademischer
Disziplin.
Letzteres halte ich für erträglich.
Das nicht-dienende Denken wird entweder als aristokratisch oder als
radikal an den Rand gedrängt.
Intellektueller ist, wer sich artikuliert und nicht tötet, im
Gegenteil, Verteidiger des Lebens ist. Der Mensch tötet aus Angst
vor dem Tod;
wer keine Angst vor dem Tod hat, tötet nicht.
Verzichte ich auf das Töten und bereite mich auf den Tod vor,
stärke ich mich selbst und kann verschiedenste Unternehmungen in
Angriff nehmen.
Der Soldat
tötet oder dient dem Töten.
Intellektuelle Macht will die militärische Macht ablösen.
Zu sagen, was wir zu sagen haben, und deshalb nicht verfolgt zu werden
liegt in unserem grundlegenden Interesse. Hier in meinem
Bücherregal reihen sich die Helden und die Propheten.
Die Weltliteratur ist eine verbale Offenbarung.
Ein jeder von uns ist Christus, doch nicht jeder bemerkt das, manch
einer verschläft die Herausforderung.
Die Wachsamkeit ist unter den Menschen nicht gleichmäßig verteilt.
Die Gedankenfreiheit, die auch bedeutet, daß es mir freisteht, an
Gott zu glauben oder nicht, ist mit den institutionellen Religionen
unvereinbar.
Von der Bevormundung durch den Parteichef zurück zur Bevormundung durch
den Priester?
Intellektuelle Macht ist nichts anderes als intellektuelle Autonomie.
Die Weltgeschichte der Intelligenz ist die Geschichte der eigenen nicht
zu vollendenden Emanzipation.
(...)
Nicht leicht, ein Deutscher zu sein
Sie experimentierten mit
der richtigen Haltung. Als sie sich stolz aufrichteten, verirrten sie
sich in militärische Arroganz. Und weil daraus Unheil entstanden
war, duckten sie sich.
Die nun zu erlernende Lektion: mehr Achtung vor der Person, dem
unersetzlich Einmaligen, dem nie mehr Wiederkehrenden, dem
Unvergleichlichen.
Auch in den nazistischen Zeiten gab es Selbstopferung und beseelte
Gesichter.
Worin bestand der Inhalt des deutschen Idealismus?
Im Wunschbild des ganz Europa schluckenden Dritten Reiches?
Nach dem Zusammenbruch aggressiver Megalomanie war es das
Nächstliegende, sich in Mittelmäßigkeit zu verkriechen.
Die Deutschen haben Angst vor sich selbst, wollen durchschnittlich
sein, es verlangt sie nicht danach, die Größten zu sein -
Größe genügt ihnen.
Wenn es denn unbedingt hervorkommt, dann wird es jedenfalls auch hier
auftauchen.