Natsume Soseki: "Kokoro"
Zeitloses Meisterwerk
Soseki Natsumes Roman "Kokoro" ist ein zeitloses Meisterwerk, ein Roman,
der wie kein anderer die japanische Literatur des zwanzigsten und
mittlerweile einundzwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat. 1867 in
Ushigome, Edo (das heutige Shinjuko in Tokio) geboren und 1916 in Tokio
verstorben, ist des Autors Leben durch die fast zeitgleiche Meiji-Zeit
geprägt, der er in seinen Romanen einen literarischen Spiegel vorhält.
Nach einem Studium der englischen Literatur an der Kaiserlichen
Universität Tokio wird er 1895 Lehrer auf Shikoku, der kleinsten der
vier Hauptinseln Japans, bevor er im Jahr 1900 im Auftrag der
japanischen Regierung zu Studienzwecken nach London geschickt wird. Die
beiden Jahre in London sind für das weitere Schaffen Soseki Natsumes
immens wichtig, da sie die Errungenschaften der westlichen Literatur in
sein Schaffen einfließen lassen.
"Niemand in der Welt wusste von ihm. Keiner außer mir konnte seine
Gelehrsamkeit und die Originalität seiner Gedanken bewundern. Ich
sagte ihm oft, wie sehr ich das bedauerte. Doch er entgegnete, er
finde es unverantwortlich, wenn jemand wie er in aller Öffentlichkeit
seine Meinungen äußerte. Es war vergebliche Mühe, ihn überzeugen zu
wollen. Er nahm meine Worte nicht ernst. Mir erschien seine Antwort
allzu bescheiden, aber es schwang auch Kritik an der Welt mit."
Im ersten Teil des Romans, der "Der Sensei und ich" betitelt ist,
erzählt ein Student, der namentlich nicht genannt wird, wie er in
Kamakura auf einen Mann aufmerksam wird, den er in Folge den "Sensei"
nennen wird. Beeindruckt von seiner Aura, freundet er sich mit ihm an.
Er besucht ihn in Tokio und nimmt fortan an seinem Leben teil. Das
Geheimnisvolle, das den Sensei umgibt, wirkt auf den jungen Mann wie ein
Zauber, den er unbedingt ergründen möchte. Er lernt auch die Frau des
Senseis kennen, die eine ebenso betörend mysteriöse Person zu sein
scheint. Der Sensei ist offenbar finanziell so abgesichert, dass er
keiner Arbeit nachgehen muss. Er lebt sein Leben, in seinen Gedanken
darüber, was das Menschsein ausmacht, gefangen. So öffnet sich der
Sensei immer mehr, ohne allerdings das preiszugeben, was später auf
beeindruckende Art und Weise das Entscheidende wird. In den Gesprächen
zwischen den beiden Männern stellt Soseki Natsume die Traditionen und
Ideen der Meiji-Ära philosophisch dar, wundervoll in die Erzählung
eingebettet. Der Sensei deutet bereits an, dem jungen Mann sein
Geheimnis mitteilen zu wollen.
"Über diese Tragödie werde ich mit keinem Wort sprechen. Weder der
Sensei noch seine Frau haben mir, wie ich schon sagte, von dieser
Liebe erzählt, die gleichsam aus dieser Tragödie geboren wurde: die
Frau aus Scheu und der Sensei aus einem noch tieferen Grund."
Im zweiten und kürzesten Teil, "Meine Eltern und ich", erzählt der junge
Student, wie er, über die schwere Erkrankung seines Vaters informiert,
in seinen Geburtsort reist, um seinen Eltern Beistand zu leisten. Hier
zeigt Natsume eindrucksvoll, wie die Konventionen und Erwartungen der
Zeit beispielsweise die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern
prägen. Während der junge Mann am Krankenbett bei seinem Vater wacht,
dessen Krankheit mit der des ebenfalls bereits erkrankten Tennos
übereinzustimmen scheint, drehen sich die Gespräche unter Anderem um die
Zukunft des jungen Mannes, aber auch darum, was gleichzeitig von ihm
erwartet wird. Obschon es hier natürlich um eine Zeit geht, die
mittlerweile mehr als hundert Jahre zurückliegt, die selbstverständlich
sehr spezifisch für das sogenannte Dilemma Japans und der Japaner ist,
kann man bei genauerer Betrachtung feststellen, dass das, was hier
zelebriert wird, auch bei uns, damals wie jetzt, sehr wohl vorhanden
ist. Wenn auch nicht so festgeschrieben als Konvention. Einige Briefe,
in denen der Student den Sensei auf den Wunsch seiner Mutter hin um
Hilfe bei der Arbeitssuche in Tokio bittet, bleiben unbeantwortet.
Andererseits trifft ein Telegramm ein, in dem der junge Mann gebeten
wird, rasch nach Tokio zu kommen. Einen weiteren Brief des jungen
Mannes, der die Situation und die Unmöglichkeit, zu kommen beschreibt,
beantwortet der Sensei mit einem weiteren Telegramm, in dem er dem
jungen Mann mitteilt, dass er nicht mehr kommen solle. Knapp bevor sein
Vater wahrscheinlich stirbt, erreicht den jungen Mann ein wirklich
dicker Brief, der ihm rasch klar macht, dass der Sensei ihm nun sein
Geheimnis mitteilt, allerdings zum Zeitpunkt des Erhalts des Briefes
bereits Selbstmord verübt haben wird. Er bricht vom Krankenbett des
Vaters überstürzt nach Tokio auf.
Der dritte und längste Teil des Romans, "Der Sensei und sein
Vermächtnis", besteht aus jenem Brief, in dem der Sensei dem jungen Mann
die so ersehnte Erklärung seines Lebens gibt. Dieser fein erzählte
Abschnitt ist das Um und Auf des Romans. Farbgeber, Motivation und
Erklärung in Einem, wird hier all das deutlich, was in den vorherigen
beiden Teilen nur erahnt werden konnte.
Leben, Tod, Liebe, das Verhältnis zwischen Jung und Alt, in diesem Roman
hat man es mit einem vielschichtigen Gesellschaftspanorama zu tun. Auch
die Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft wird von Natsume
Soseki immer wieder angeprangert.
"Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin ja nur eine Frau - ich
fürchte, ich begreife das nicht. Vermutlich ist das aber nicht der
eigentliche Grund. Ich glaube, er würde gern irgendwo tätig sein, aber
er kann es nicht. Er ist wirklich zu bedauern!"
Denn während die Frau des Senseis zwar weiß, wie sie sich geben muss,
zeichnet sie der Autor als feinfühlige, höchst intelligente Frau, die
eine Anziehungskraft auf den jungen Studenten ausübt, welche zwar leicht
erotisierend, aber immer geistiger Natur ist.
Besonders stark sind auch die Beobachtungen zu den menschlichen
Missständen, die sehr wohl dafür verantwortlich sind, was wir in unserer
heutigen Zeit nur allzu aktuell erleben. Gier, Neid und Intrigen; sogar
Familienmitglieder sind nicht immun dagegen, Fremde daher schon gar
nicht.
So dringt man tief ins Innere Japans und der japanischen Mentalität ein,
in der die Wahrung des Gesichts die wahrscheinlich heiligste Aufgabe
ist, der man sich mit aller Vehemenz stellen muss. Erst durch die
Loslösung von dieser Konvention ist das Leben wirklich möglich. Auf die
Frage, aus welchem Grund sich der Sensei nicht mehr für Bücher
interessiere, antwortet er:
"... dass es mir früher peinlich war, wenn ich etwas, wonach mich
jemand fragte, nicht wusste, ich jedoch neuerdings herausfand, dass es
gar keine so große Schande ist, etwas nicht zu wissen. Da ist mir die
Lust vergangen, um jeden Preis möglichst viel zu lesen. Kurz: Ich bin
alt geworden."
Nichtsdestotrotz holt die Vergangenheit den Sensei ein. So sicher wie
die Gezeiten kommen, schwemmt die Tragödie, die einzig aus dem
Unvermögen, die Wahrung des Gesichts nicht über den Wunsch des Herzens
und die Freundschaft stellen zu können, dem Leben einen entscheidenden
Einschnitt gegeben hat, alles Erreichte weg und hinterlässt nur gähnende
Leere.
Wer viel Literatur aus Japan liest, wird hier den Ursprung der Quelle
finden, die später auf ganz unterschiedliche Weise die Romane Yasunari
Kawabatas,
Yasushi Inoues, Yukio
Mishimas, Kenzaburo Oes, Haruki
Murakamis, Ryu Murakamis und jene vieler anderer Autoren genährt
hat.
"Kokoro" ist ein Jahrhundertroman, ein zeitloses Meisterwerk, das hier
in einer wunderbar übersetzten Ausgabe vorliegt.
(Roland Freisitzer; 10/2016)
Natsume Soseki: "Kokoro"
(Originaltitel "Kokoro")
Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Oscar Benl.
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 2016. 382 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen