Bodo Kirchhoff: "Widerfahrnis"
Eine
Flucht mit Annäherung?
Kaum ein deutschsprachiger Autor ist so konsequent in der Auswahl
seiner Ideen und Themen wie Bodo Kirchhoff. Seine großartigen
Romane und Erzählungen beschäftigen sich, bis auf
wenige Ausnahmen, immer wieder mit dem Zwischenmenschlichen und der
Liebe. Meistens in der logischen Verbindung. Nach den beiden
großartigen und umfangreichen Romanen "Die Liebe in groben
Zügen" und "Verlangen
und
Melancholie" erscheint nun eine Novelle, die den Titel
"Widerfahrnis" trägt.
"Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz
zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen
würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie
begonnen? Vielleicht mit den Schritten vor seiner Tür und den
Zweifeln, ob das überhaupt Schritte waren oder nur wieder
etwas aus einer Unruhe in ihm, seit er nicht mehr das Chaos von
anderen
verbesserte, bis daraus ein Buch wurde."
Gleich mit den ersten beiden Sätzen dieser Novelle leuchtet
Kirchhoff virtuos die Bühne für das kommende
Meisterstück der Erzählkunst aus.
Von diesen ersten Schritten vor der Tür, dem geheimnisvollen,
ihm bis dato unbekannten Buch, das er plötzlich zwischen
seinen Büchern findet, dem Rotweinfleck auf dem anonymen
Umschlag des Buches, der Frau im Sommerkleidchen vor der Tür
und den unendlichen vielen Zigaretten, die Reither, der ehemalige
Verleger, bald in Gesellschaft der ihm zu diesem Zeitpunkt noch
unbekannten Leonie Palm rauchen wird; sanft, elegant und bestechend
genau umkreist Kirchhoff die Annäherung der beiden, die
schwerfällig beginnt, dennoch rasch unausweichlich scheint.
Über die Wunden der Vergangenheit nähern sich die
ehemalige Hutmacherin Leonie Palm und der ehemalige Verleger Reither
sicher den Möglichkeiten der Zukunft. Und die besteht, nach
einigen Stunden des intensiven (und platonischen) Kennenlernens,
vorerst in einer nächtlichen Spritztour zum Achensee, um den
Sonnenaufgang zu betrachten. Da diese allerdings kurz nach Mitternacht
beginnt und der einstündige Weg zum Achensee eine zu lange
Wartezeit ergeben würde, löst sich das Ziel
während der Fahrt mehr oder weniger auf. Italien, die
Küste entlang, die Fahrt selbst wird zum Ziel, immer weiter in
den Süden führt der Weg der Annäherung.
Während beide im eigenen Leben im Erzählen nach den
Versäumnissen und Verlusten forschen, ihre Gemeinsamkeiten und
Unfähigkeiten erkennen, arbeiten sie sich weiter auf ihrer
Flucht, eine Art Flucht ist es in jedem Fall, immer weiter.
Persönlich und geografisch.
Erste Vorzeichen des "unerhörten Ereignisses" (das Goethe
als Kennzeichen einer Novelle bezeichnet hat), das die klassische
Novelle ausmacht, werden von Bodo Kirchhoff früh auf der Fahrt
eingeführt.
"Schalten, sagte sie wieder, und im ersten Gang fuhren sie an
einem Baumarkt entlang, übergehend in eine Ladengalerie mit
angrenzendem Kaufhaus: metastasenartig war der ganz Komplex, vor dem
Kaufhaus lag ein großer Parkplatz, noch fast leer um die
Zeit, nur an der unbebauten Seite, hin zu den Büschen und
einer Deponie, standen ein paar Autos und etwas abseits ein Wohnmobil
mit Fahne, auf das steuerte sie zu, wie herangewinkt, fuhr dann aber
daran vorbei und parkte ein Stück versetzt in Richtung der
Büsche, hohem Oleander, dazwischen Planen und
Gestrüpp und eine Art Bewegung, ein Leben, als würden
sich dort Tiere drängen, etwas Schafe oder Ziegen, darunter
auch kleine, bis Reither sah, dass es Menschen waren, an ihre Habe
geklammert, Rucksäcke, Bündel, Plastiktüten."
Während die Fahrt weitergeht, kommen sich Reither und Leonie
Palm immer näher, ohne dass Kirchhoff die Grenze der immer
stärker werdenden Anziehung so weit übertreten
würde, dass er vom Knistern in die Tat schalten
würde. Das, unter Anderem, ist eines der extrem starken
Spannungselemente dieser eindringlichen Erzählung, die das
Paar letztendlich, begleitet von immer häufiger auftretenden
Vorzeichen des über allem lauernden Ereignisses, nach Sizilien
führt.
In Catania finden sie, vom Zufall geleitet, ein Appartement, vielleicht
bereit für den nächsten Schritt auf ihrer wundersamen
Reise der Annäherung. Auf der Terrasse stehend, sieht Reither
auf der Straße ein Mädchen, das mehr oder weniger
wertlose Kettchen zum Verkauf anbietet. Sie sehen einander, und das
Mädchen taucht ein wenig später auch vor jenem Lokal
auf, in dem Palm und Reither essen.
"Das Mädchen, immer noch ihre wertlose Ware in der
Hand, zeigte schon Zeichen von Ungeduld, wenn es Ungeduld war; es
hätte auch Angst sein können, die Angst, mit ihrer
Tour aufzufallen und verjagt zu werden von Carabinieri, die am Rande
des Platzes neben schweren Motorrädern standen, und damit die
Sorge, es an dem Abend auch nicht mehr zu schaffen, Geld für
etwas Essen zu bekommen, den eigenen Hunger
zu stillen und gar noch den von Geschwistern,
ihn vor dem Schlafen in
einem Verschlag doch wenigstens zu lindern ..."
Unentschlossenheit auf der einen Seite, ebenso wie Entschlossenheit auf
der anderen führt dazu, dass sich Reither und Leonie Palm um
das Mädchen, das kein Wort redet, kümmern, es mit in
Wohnung nehmen und den weiteren Ausflug mit ihm gemeinsam machen. Auf
der Fähre kommt es dann zum entscheidenden Ereignis, das die
noch nicht gefestigte und neuartige Welt der Gemeinsamkeit ins Wanken
geraten lässt. Eine Kleinigkeit eigentlich, zu Beginn, eine
Lawine am Ende.
Mehr darüber zu verraten, würde zu viel vom
Leseerlebnis dieser Novelle vorwegnehmen.
Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis" steht auf der Nominiertenliste des
"Deutschen Buchpreises" 2016 und könnte, wenn literarische
Qualität wirklich der alles entscheidende Faktor
wäre, diesen auch gewinnen. Allerdings ist diese
Erzählung auch ohne Preis eine ausgezeichnete
Lektüre; klug und intelligent, tiefenpsychologisch
eindringlich und aufwühlend, sprachlich auf höchstem
Niveau und gleichzeitig sehr flüssig lesbar. Ein Buch, das
lange nachhallt und zum Nachdenken darüber anregt, was das
Leben ausmacht. Darüber, was Liebe, Freundschaft
und
Glück bedeuten, was Eigenständigkeit und Einsamkeit
ausmacht und das Unvermögen, im Mitmenschlichen gut genug zu
sein. Und das ist auf 223 Seiten gar nicht wenig ...
(Roland Freisitzer; 09/2016)
Bodo
Kirchhoff: "Widerfahrnis"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2016. 223 Seiten.
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