Abbas Khider: "Ohrfeige"
Treibsand
Der neue Roman von Abbas Khider beschäftigt sich mit einem
Thema, das heute aktueller denn je erscheint. Der Autor, der 1996 aus
dem Irak geflüchtet ist und nach vier Jahren als illegaler
Flüchtling in verschiedenen europäischen
Ländern seit dem Jahr 2000 in Deutschland wohnt, hat mit Karim
Mensy einen Protagonisten geschaffen, der wohl oder übel so
etwas wie sein fiktives alter ego ist.
Karim Mensy lernt der Leser in einem Moment der Verzweiflung kennen.
Scheinbar hat er Frau Schulz, die zuständige Sachbearbeiterin
im Ausländeramt, die seine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Tod
Saddam Husseins widerrufen hat, in seine Gewalt gebracht. Geknebelt
sitzt sie nun in ihrem Büro. Während er sich einen
Joint genehmigt, erzählt er ihr, wie es war, wie schwer es ihm
gefallen ist, wie steinig der Weg und die Gesetze waren, warum er
offenbar bereit ist, sich durch diese kriminelle Handlung zumindest
Genugtuung zu gönnen.
Karims Fluchtgrund ist leider für das Asylsystem nicht
passend, weil er weder politisch verfolgt, noch
Wirtschaftsflüchtling ist. Dennoch ist jedem Leser rasch klar,
dass Karim nicht im Irak leben kann, nicht unter den
Umständen, die dort herrschen. Er hat nämlich das
Problem, dass ihm Brüste wachsen und er zum Militär
muss. Wie es ihm dort gehen würde, will man sich eigentlich
gar nicht vorstellen. Dieser vorerst absurd scheinende Fluchtgrund
öffnet Abbas Khider allerdings für seinen Roman
Türen, die ihm mit all den anderen Möglichkeiten
verschlossen geblieben wären.
"Entweder du hast etwas gegen die Regierung getan und man
sucht dich, oder du bist Christ, Kommunist, Mitglied einer
schiitischen
Partei, ein Homosexueller oder Teil einer Minderheit. Andere
Alternativen hast du als Iraker nicht."
Eigentlich hat er das Ersparte seiner Familie für die Flucht
nach Frankreich bezahlt, wo ein Onkel auf ihn wartet. Doch nachdem der
Schlepper alle aus dem Fahrzeug befördert hat, muss Karim
erkennen, dass er sich in Deutschland befindet. Er wird von der Polizei
erwischt, seine Personalien werden festgehalten, und damit ist sein
Reiseziel Frankreich nunmehr ein Ding der Unmöglichkeit. Vom
Polizeigewahrsam, wo ihm das noch verfügbare Bargeld
abgenommen wird, über die Erstaufnahmestelle in Bayreuth, das
er zuerst mit Beirut in Verbindung bringt, bis hin zum
endgültigen Heim in Bayern, die ganzen drei Jahre und einige
Monate, das alles muss sich Frau Schulz anhören,
während Karim immer wieder einen neuen Joint nachlegt.
Der Rezensent hat sich wiederholt die Frage gestellt, was Abbas Khider
mit diesem Roman eigentlich sagen will. Er bewegt sich mit dem, was er
da vor dem Leser ausbreitet, in gefährlichen
Gewässern. Der Text will offenbar nicht mit der
Ausländerfeindlichkeitskeule punkten, ebensowenig, wie er
Flüchtlinge als sakrosankte Wesen darstellen will. Er
höhlt das Asylsystem von innen aus, indem er die viel zu
dünnen Außenwände beleuchtet und so die
Absurdität des erschaffenen Systems offenlegt. Ein System, dem
es, in Person von Frau Schulz, einfach an Menschlichkeit fehlt.
Menschlichkeit, Zuspruch und Hilfe erfahren die Flüchtlinge
nur von einer ehrenamtlichen Helferin. Auch wenn sich am System seit
2001 sicherlich viel geändert hat, so sind es genau die
Punkte, die heute, 15 Jahre später, wieder im Mittelpunkt
stehen sollten.
Der Roman zeigt, wie schwer es ist, Fuß zu fassen, auf
erlaubtem Weg die Bedingungen zu erfüllen. Man möchte
einfach ein normales Leben führen, arbeiten, ausgehen, im
Einkaufszentrum im Café sitzen, mit Kellnerinnen plaudern
und die große Liebe finden. Allerdings spielt sich das Leben
der Flüchtlinge nur im Wahrnehmen ab, man beobachtet und
wärmt sich am Zusehen, an der Vorstellung, es irgendwann
einmal selbst so weit zu bringen. Der gewünschte Deutschkurs
wird erst demjenigen bezahlt, der bereits ein Jahr brav gearbeitet und
Steuern gezahlt hat. Allerdings ist es fast unmöglich, ohne
Deutschkenntnisse Arbeit zu finden. Was Karim Mensy immer wieder wie
einen Urenkel von Franz
Kafkas Landvermesser erscheinen lässt.
Der Roman zeigt die Verbindungen zwischen Flüchtlingen
verschiedener Herkunftsländer, die auf engstem Raum
miteinander in Kontakt stehen.
Karim Mensy tut alles, um die Bedingungen zu erfüllen, spart
sich vom mickrigen Lohn mehr ab, als man sich vorstellen kann, und
scheitert letztendlich am Treibsand, auf dem alles aufgebaut ist. Seine
Situation ist unveränderbar und die Ausgangslage ebenso. Um
der Abschiebung in den Irak zu entgehen, wo er als abgeschobener
Flüchtling um sein Leben fürchten müsste,
investiert er alles, was er erwirtschaftet hat, in eine Schlepperfahrt
nach Finnland. Seinen Wunsch, jemanden bzw. das System zu ohrfeigen,
versteht man als Leser voll und ganz. Dass sich dieser Wunsch in seiner
von Joints benebelten Vorstellungsebene abspielt, leitet den Blitz ins
Niemandsland ab und nimmt dem Text die Schärfe einer konkreten
Schuldzuweisung. Mit diesem offenen Ende wird der Leser alleingelassen.
So ist es unmöglich, sich nach der Lektüre nicht
weiter mit dem Buch zu beschäftigen und selbst
Schlüsse zu ziehen. Ein Kunstgriff, der dem Roman, der extrem
viel riskiert, erlaubt, beim Drahtseilakt auf die Seite "voll gelungen"
zu kippen.
Sprachlich ist "Ohrfeige" sicherlich bewusst nicht ganz auf dem Niveau
von "Die Orangen des Präsidenten" oder "Brief in die
Auberginenrepublik", was diesen Monolog Karims dafür umso
plausibler und glaubhafter erscheinen lässt.
Natürlich kann man diesen Roman nicht ohne Parallelen zur
derzeitigen Situation lesen, in der Millionen von Menschen gezwungen
sind, aus ihrer Heimat zu flüchten. Vielleicht hilft er dem
einen oder anderen darüber hinweg, vorschnell zu urteilen und
zu begreifen, dass es unzählige triftige Gründe geben
kann, sein Heimatland, sein Haus, seine Lieben zu verlassen, und dass
dies niemand aus Jux und Tollerei tut. Weil man, entwurzelt aus dem
Leben, das man seit seiner Kindheit kennt, nur mit Mühe und
Not woanders wirklich heimisch werden kann. Und das auch nur, wenn man
dabei Menschlichkeit und Verständnis erfährt, die
dabei unumgänglich sind.
Sehr starke Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 03/2016)
Abbas
Khider: "Ohrfeige"
Hanser, 2016. 224 Seiten.
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Abbas
Khider wurde 1973 in Bagdad
geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen
seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung
floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich als "illegaler"
Flüchtling in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000
lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in
München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman
"Der falsche Inder", es folgten die Romane "Die Orangen des
Präsidenten" (2011) und "Brief in die Auberginenrepublik"
(2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, darunter den
"Nelly-Sachs-Preis" sowie den "Hilde-Domin-Preis".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl)':
"Die Orangen des Präsidenten"
Meine Mutter weinte, wenn sie sehr glücklich war. Sie nannte
diesen Widerspruch "Glückstränen". Mein Vater dagegen
war ein überaus fröhlicher Mensch, der
überhaupt nicht weinen konnte. Und ihr Kind? Ich erfand eine
neue, melancholische Art des Lachens. Man könnte es als
"Trauerlachen" bezeichnen. Diese Entdeckung machte ich, als mich das
Regime packte und in Ketten warf. (btb)
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"Brief
in die
Auberginenrepublik"
Irak im Oktober 1999: Salim, ein ehemaliger Student, schlägt
sich im libyschen Exil als Bauarbeiter durch. Er war wegen des
Besitzes
verbotener Bücher verhaftet worden. Über seinen Onkel
ist ihm die Flucht aus dem Irak gelungen, doch er hat nie wieder von
seiner Familie,
seinen Freunden
und vor allem von seiner Geliebten
Samia gehört. Nun erfährt er in Bengasi von einem die
ganze arabische Welt überspannenden Netzwerk von illegalen
Briefboten und wagt es, Samia einen Brief mit einem Lebenszeichen zu
senden. (btb)
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