Jonas Karlsson: "Das Zimmer"
Ein
Einzelgänger auf der Schattenseite
Der schwedische Schauspieler und Schriftsteller Jonas Karlsson, geboren
am 11. März 1971 in Södertälje, hat mit
seiner im Original bereits anno 2009 erschienenen Publikation "Das
Zimmer" gewissermaßen eine bemerkenswerte literarische
Fallstudie vorgelegt. Der Roman wurde inzwischen in zehn Sprachen
übersetzt, was angesichts des packenden Themas nicht weiter
überraschend ist. Erstaunlich ist jedoch, dass die
Übersetzung ins Deutsche erst so spät erfolgt ist.
Der Buchumschlag der deutschsprachigen Ausgabe zeigt einen Teil eines
in Hemd und Anzug gekleideten Oberkörpers, ein Motiv, das man
tausendfach aus der Werbung zu kennen meint. Doch Halt: Anstelle einer
Krawatte schmückt ein elegant geknoteter Galgenstrick den
tadellos weißen Hemdkragen! Absolut passend, geht es doch in
65 Kapiteln beinahe wirklich um Kopf und Kragen und der Arbeitswelt
mitsamt ihren menschenunwürdigen Rahmenbedingungen an den
Kragen.
"So, so, dachte ich. Ein Zimmer.
Ich öffnete die Tür und schloss sie wieder. Das war
alles." (S. 7)
Ein geheimer Zufluchtsort, für ihn selbst in Gestalt eines
wohltuend ordentlichen Einzelbüros, für die Kollegen
in Gestalt einer einfachen Wand, entpuppt sich für den
aufgrund diverser Probleme zu einer neuen Behörde versetzten
Icherzähler Björn als Inbegriff der Selbstbehauptung
und als Existenzfrage. Unter mangelndem Selbstbewusstsein oder
fehlendem Engagement scheint der schon auf den ersten Blick verschroben
wirkende Einzelgänger, übrigens ein eher
unzuverlässiger Erzähler, an seinem Arbeitsplatz
nicht zu leiden, entdeckt er doch unverzüglich an jedem
Kollegen Mängel und unsympathische Züge, an sich
selbst hingegen ausschließlich positive Eigenschaften.
Gnadenlos fallen seine Urteile über Zeitgenossen aus, doch wie
im Märchen fällt derlei auch auf ihn selbst
zurück:
"Dummen Menschen ist häufig nicht bewusst, dass sie
dumm sind. Sie spüren möglicherweise, dass etwas
nicht stimmt, vielleicht merken sie auch, dass sich die Dinge nicht so
entwickeln, wie sie sich das vorgestellt haben, doch nur wenige von
ihnen ziehen den Schluss, dass dies an ihnen selbst liegen
könnte. Dass sie sozusagen selbst die Wurzel ihrer Probleme
sind. So etwas lässt sich auch ausgesprochen schwer
vermitteln." (S. 43)
Eigen- und Fremdwahrnehmung klaffen bekanntlich nicht selten weit
auseinander. Denn was dem Einen trotz auffälliger
Verschlechterungen als lang verdiente Karrierechance und Anlass
für vermeintlich größeren Fleiß
und mehr Ellbogeneinsatz erscheint, ist für Andere doch nur
die dringend nötig gewesene Abschiebung eines ebenso
unbequemen wie lästigen Wichtigtuers, der schon allein durch
seine Anwesenheit für Unruhe bei den Kollegen sorgt.
So findet sich der weggelobte Sonderling also in einem
Großraumbüro wieder, wo er niedrige Dienste
verrichten muss und sich täglich mehr in seine Hirngespinste
hineinsteigert. Der
Pedant und Besserwisser von eigenen Gnaden legt zudem eine ungeheure
Kommunikationsunfähigkeit an den Tag und beherrscht - trotz
Zählzwangs - nicht einmal das kleine Einmaleins
sozialverträglichen Verhaltens, obwohl er
naturgemäß vom Gegenteil überzeugt und auch
noch stolz darauf ist, wähnt er sich doch im Besitz
letztgültiger Einsichten und thront sozusagen intellektuell
auf dem hohen Ross. Ständig sind Andere schuld, wenn etwas
nicht nach Plan läuft, und Jonas Karlsson stellt die Psyche
eines so gearteten Menschen gekonnt bis ins Kleinste dar, indem er sich
voll und ganz auf dessen höchstpersönliche
Perspektive und Logik einlässt. Björn, der
freudlose Kontrollfetischist, liefert sich mit seinem Tischgenossen
Revierstreitigkeiten wegen Akten, er wird gar des Drogenkonsums
verdächtigt und von entnervten Kollegen für
geisteskrank gehalten.
Von außen betrachtet ist Björn vielleicht nur ein
komischer Kauz mit Kontaktschwierigkeiten, aufgrund der Schilderungen
des inneren Erlebens werden die bösen Abgründe jedoch
in ihrer gesamten Tiefe sichtbar.
Der
überempfindliche Björn hält penibel seine
fünfundfünfzigminütigen Arbeitsphasen streng
von fünfminütigen Pausen getrennt ein,
grübelt auch zu Hause über die Kollegen sowie seine
Arbeit nach. Er ist
überkritisch, ob es nun um eine Kinderzeichnung oder einen
seiner Meinung nach nicht korrekt gebauten Schneemann geht.
Felsenfest davon überzeugt, alle hätten sich gegen
ihn und sein bislang unerkanntes Riesentalent verschworen, greift er
eines Tages zu einer List, bedient sich einer hinterhältigen
Taktik und dreht quasi den Spieß um, was ihm und der von
Auflösung bedrohten Abteilung vorübergehend
große Erfolge und eine Atempause beschert: Abends und nachts
bearbeitet er im nur für ihn vorhandenen Zimmer heimlich
Fälle und formuliert geniale Rahmenbeschlüsse (ein
märchenhaftes Motiv: bei Nacht wird Stroh zu Gold gesponnen).
Eine trügerische Phase der Anerkennung folgt, doch der Friede
kann nicht von langer Dauer sein, die Gruppendynamik hält alle
fest in ihren Klauen ...
"Wir sind möglicherweise zu dem Punkt gelangt, an dem
das Zimmer sozusagen eine Bedeutung hat. Und dadurch
existiert es eben." (S. 156)
Zahllose Besprechungen mit den Kollegen und dem
verständnisvollen aber entscheidungsschwachen Chef, der stets
auf Beschwichtigung bedacht ist, ändern im Grunde ebensowenig
an der Situation wie der angeordnete Besuch beim Psychiater.
Björns Verfolgungswahn, sein passiv-aggressives Verhalten und
sein Beharren auf dem geheimen Zimmer führen zur
schlussendlichen grotesken Eskalation, die in dieser Weise wohl
für alle unerwartet kommt ...
Jonas Karlsson vollbringt das Kunststück, die Perspektive des
nicht durchgehend unsympathischen Protagonisten innerhalb der eigenen
Welt plausibel und überwiegend auch nachvollziehbar
darzustellen, denn das eigene Bezugssystems wird von einer
höchstpersönlichen Vernunft beherrscht.
Unterfüttert ist die interessante Innenschau mit
amüsanten Binsenweisheiten, die an zeitgeistige
Organisationsratgeber ("Diskussionskultur"!) erinnern.
Jonas Karlssons minimalistischer Stil bildet haargenau die reduzierte
Wahrnehmung eines in seiner eigenen Wahnwelt Gefangenen ab, von manchen
Literaturkritikern wurde dem Autor denn auch reflexartig bescheinigt,
"kafkaesk"
zu schreiben. Doch man muss den guten Franz Kafka nicht
unbedingt bemühen, "Das Zimmer" überzeugt aus eigener
Kraft mit köstlichen Darstellungen und fantastischen
Entwicklungen.
Der beeindruckende Roman, dessen Ende in anderen Zeiten gewiss anders
interpretiert würde, wirft ein bezeichnendes Licht auf die
heutige lebensfeindliche Arbeitswelt, aus der nicht Wenige am liebsten
verschwinden würden.
(kre; 04/2016)
Jonas
Karlsson: "Das Zimmer"
(Originaltitel "Rummet")
Aus
dem Schwedischen von Paul Berf.
Luchterhand, 2016. 173 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Michael Schneider: "Ein zweites Leben"
Keine Zeit, sich zu besinnen - der Roman eines unfreiwilligen
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Fohrbeck findet sich in einer psychosomatischen Rehaklinik wieder,
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