Dževad Karahasan: "Der Trost des Nachthimmels"


"Der Duft der Angst"

"Der Trost des Nachthimmels", der neue Roman des großen bosnischen Erzählers Dževad Karahasan, ist ein literarisches Ereignis. Er nimmt den Leser mit ins elfte Jahrhundert und haucht historischen Persönlichkeiten neues Leben ein. Der Protagonist des Romans ist Omar Chayyam (1048-1131), Hofastronom in Isfahan. Ursprünglich offenbar als Essay über den persischen Mathematiker, Astronomen und Poeten gedacht, ist letztendlich, nach elf Jahren Arbeit, doch etwas ganz Anderes entstanden. Ein vordergründig historischer Roman, der allerdings in jeder Hinsicht zeitlos ist.

Dževad Karahasan hat bei der Arbeit an diesem Roman die ganze Epoche akribisch rekonstruiert und so das Reich der Seldschuken quasi neu erschaffen. Man spürt auch sofort, dass es sich hier definitiv nicht um einen "historischen Roman" im herkömmlichen Sinn handelt. Zu visionär, zu grenzüberschreitend ist die Prosa, die nie in historisches Geplänkel abdriftet und gerade auch deshalb stilistisch so absolut überzeugend ist. Es ist eine Art des Erzählens, das jegliche Effekte ausspart, dadurch umso eindringlicher wird.

Omar Chayyam hat am Hof des Sultans von Isfahan die Aufgabe, zusammen mit dem Wesir Nizam al-Mulk ein Observatorium zu errichten und den Sonnenkalender neu zu gestalten bzw. zu reformieren.
Unerwartet stirbt ein hochangesehener Mann. Der Sohn des Verstorbenen fordert Aufklärung. Omar Chayyam wird eingeteilt, an den Ermittlungen teilzunehmen und gerät dabei ins Visier der Polizeibehörde, die korrupt und undurchsichtig zu agieren scheint. Er kommt schnell zu dem Schluss, dass der Mann vergiftet wurde. Erschwerend kommt weiter hinzu, dass er sich in die Tochter des Mannes verliebt hat. Da seine Recherchen und Ermittlungen für das Umfeld verstörend sind, heizt sich die Stimmung durch die Verdächtigungen naturgemäß stark auf. Seine Methoden sind auch im heutigen Sinn modern und wären eines klugen und gewieften Ermittlers im Jahr 2016 wahrlich würdig. Omar Chayyam fungiert hier als nach Liebe suchender Beobachter einer Gesellschaft, die unwissend auf dem Weg in den Untergang ist. Engstirnigkeit, Überheblichkeit und Angst vor dem Neuen, vor dem Unbekannten; das sind die unterschwelligen Probleme, die sich hier ganz ohne Aufklärungskeule offenbaren. Die Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft sind erschütternd.

Das Reich des Sultans wird später durch die radikale Volksgruppe der Karmaten bedroht, und schlechte Ratgeber wie Intriganten lassen den Sultan falsche Entscheidungen treffen, die dazu führen, dass seine Macht zu bröckeln beginnt. Im ausbrechenden Krieg kommt es zu Folterungen und repressiver Politik, ebenso wie dem Verrat an den visionären sozialen Programmen, die den Aufstieg des Sultans ursprünglich gewährleistet haben. Und so zerfällt das Reich von innen, während Kreuzritter und Mongolen von außen auf Eroberung pochen. Chayyams Frau wird ermordet, ebenso wie der politisch aufgeschlossene Wesir.

Ein ehemaliger Weggefährte Chayyams ist mittlerweile Anführer einer im heutigen Sinn terroristischen Organisation. Er bedient sich der Angstmacherei, um seine Ziele zu erreichen. In Briefen an Omar Chayyam schildert er eindringlich sein Vorgehen.
"Von deiner Angst hängt ab, wie du zu Gott betest und wie du isst, wie du in den Kampf gehst und wie du dich nach Frauen sehnst. Deine Angst bestimmt, was dir im Leben wichtig ist und mit wem du Umgang pflegst, was du lernst und worüber du nichts erfährst. Sag mir, was für eine Angst du hast, und ich sage dir, was für ein Schicksal du hast. Deshalb sage ich dir, Macht über die Menschen hat, wer ihre Ängste lenkt."
Er erklärt, dass die Angst einen unverkennbaren Geruch hat, einen "Duft der Angst", und stellt sich eine Welt vor, die von diesem Geruch erfüllt sein möge. Eine Welt, in der "Ernsthaftigkeit und Mühe wichtiger ist, als der Zirkus der oberflächlichen Freude der Menschen". Eine gute Welt, wie er meint.

Konträr dazu sagt der Sufi Abu Said, der in Wahrheit gar nicht gleichzeitig mit Omar Chayyam gelebt hat und den Dževad Karahasan mit einem Kunstgriff einfach als einen weiteren Weggefährten Chayyams installiert, dass der Mensch Glauben brauche, aber keine Religion. So spielt der bosnische Autor hochvirtuos mit der Übertragung des historischen Konzepts in die Jetztzeit. Eine Vorgehensweise, die, unterschiedlich gestaltet, in den vermeintlichen historischen Romanen großer Autoren immer schon an der Tagesordnung gestanden hat. So wie beispielsweise die Eroberung der Europäer in Südamerika in Alfred Döblins "Amazonas" eigentlich für das Aufkeimen des Nationalsozialismus unter Adolf Hitler steht, ist dieser Roman auch, im Subtext, eine intensive Beschäftigung mit den Irrwegen des Islamistischen Terrors und des IS unserer Zeit.

Im letzten Teil des Romans, dessen Titel im Original titelgebend für den ganzen Roman ist, erzählt der mittlerweile bereits alte Omar Chayyam, der nun wieder in seiner Heimatstadt Nischapar lebt, einem jungen Bosnier seine Lebensgeschichte. Dieser schreibt sie auf. Auf Umwegen und über viele Jahrhunderte erhalten, gelangt sie letztendlich in die Bibliothek von Sarajewo. Diese Schrift stöbert ein in Norwegen lebender Bosnier auf und transkribiert sie. Bei der Bombardierung Sarajewos anno 1992 werden sowohl Original als auch Transkription zerstört, was den Mann dazu bringt, alles aus dem Gedächtnis noch einmal aufzuschreiben.

Karahasans Roman ist dennoch alles Andere als ein politisch motiviertes Manifest oder gar ein Essay gegen Terror und Gewalt. "Der Trost des Nachthimmels" ist ein kraftvoller, epischer, literarisch höchst überzeugender Roman, der zeitlos und unaufdringlich, ohne erhobenen Zeigefinger, aufzeigt, wie religiöser Fundamentalismus eine blühende Gesellschaft und Zeit zerstören kann, die sich bis zu dessen Aufkeimen durch Toleranz, Aufgeklärtheit, Mut, soziale Größe und geistige Vielfalt ausgezeichnet hat.

Die Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber ist berauschend schön gelungen, stilistisch ausgezeichnet und liest sich definitiv wie ein Originaltext. Eine weitere Stärke dieses Romans ist die Schnörkellosigkeit der Prosa, die trotz aller Modernität eine überzeugend gelungene Brücke zwischen dem elften und den einundzwanzigsten Jahrhundert ist. Karahasans Prosa ist auch von jeglichem Parfum befreit, das sich so gerne in "orientalischen" Romanen festsetzt. Da gibt es kein begleitendes Beiwerk, keine Verzierungen, kein Dahinplätschern. Und trotzdem ist alles im wahrsten Sinn des Wortes poetisch.

"Der Trost des Nachthimmels" ist sicherlich einer der wichtigsten und unvergesslichsten Romane, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, ein richtiges Ereignis. Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 02/2016)


Dževad Karahasan: "Der Trost des Nachthimmels"
(Originaltitel "Sto pepeo prica")
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Suhrkamp, 2016. 724 Seiten.
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