Han Kang: "Die Vegetarierin"


Die Symbolik des Fleisches oder der Weg in die Freiheit

"Die Vegetarierin" ist der erste Roman (entstanden 2007) der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang, der ins Deutsche übersetzt wurde. Die Nominierung für den bzw. dann der verdiente Gewinn des "Man International Booker Prize" wird den Weg zum deutschsprachigen Leser immens beschleunigt haben, und dafür kann man nicht dankbar genug sein.

Hat schon die wirklich gelungene englische Übersetzung den Rezensenten beeindruckt, wird diese von der deutschen Übersetzung Ki-Hyang Lees in den Schatten gestellt. Ki-Hyang Lee, deren Muttersprache natürlich Koreanisch ist und die in Deutschland Germanistik studiert hat und in München als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin lebt, hat den perfekten Tonfall getroffen, um diesen wunderbaren Roman noch stärker blühen zu lassen.

Yong-Hye, die Protagonistin dieses Romans, lebt seit fast fünf Jahren in einer freudlosen, dahingleitenden Ehe. Sie ist, in den Augen ihres Mannes, "völlig unscheinbar". Bei ihrer ersten Begegnung, erinnert er sich gleich auf der ersten Seite, fand er sie "nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen." Allerdings ist es genau das, was ihn überzeugt, die richtige Frau gefunden zu haben. Der von ihm festgestellte "Mangel an Ausstrahlung ... fehlendem Esprit und Charme" kommt ihm entgegen, weil er meint, deshalb keine intellektuellen Hochleistungen vollbringen zu müssen, um sie für sich zu gewinnen. Ebenso erwartet er, dass sie, mehr oder weniger glücklich, ein ebenso durchschnittliches Modell eines Ehegatten abbekommen zu haben, ihm weder Vorwürfe macht, wenn er spät nach Hause kommt, noch seine Unzulänglichkeiten, und er ist sich seiner Unzulänglichkeiten wohl bewusst, vorwirft. Der einzige Unterschied zu "anderen Frauen", den ihr Mann ihr zugesteht, ist der, dass sie es hasst, einen BH zu tragen.

Bereits auf den ersten Seiten fesselt Han Kang mit einer unaufgeregten, obschon äußert präzisen Zeichnung einer Ehe, die sich dem in Korea herkömmlichen patriarchalischen System ohne Wenn und Aber unterordnet, das, auch wenn erste Brüche immer deutlicher werden, noch immer das häufigste Rezept ist. Bereits in der ersten Beschreibung Yong-Hyes (Schlupflider, dominante Wangenknochen) spricht Han Kang erste Brüche an. Eben die Schlupflider und dominanten Wangenknochen sind die beiden Attribute, die koreanische Frauen unter keinen Umständen haben dürfen, wenn sie als schön gelten wollen. Die plastische Chirurgie verdient in Korea hauptsächlich an diesen Faktoren.

Eines Nachts wacht der Mann auf und findet seine Frau im Nachthemd auf dem Küchenfußboden. In der Küche ist es dunkel, und er steigt auf etwas Weiches. Yong-Hye hat alle Fleisch- und Fischprodukte, die im Kühl- und Gefrierschrank vorhanden waren, aussortiert. Erst später erklärt sie ihm, einen Traum gehabt zu haben, in dem sie von blutigem Fleisch richtiggehend gejagt worden ist. Sie kann ihren Mann nicht mehr riechen, weil er nach Fleisch stinkt. Eine alptraumhafte Erinnerung an Hundefleisch aus ihrer Jugend verfolgt sie ebenso. Gleichzeitig nimmt sie immer mehr ab, sodass sich die Familie große Sorgen macht. Einerseits um die Gesundheit ihrer Tochter, ohne Fleisch, das ist doch unmöglich, andererseits um das gesellschaftliche Ansehen. Jene Fesseln, welche die Konvention vor allem Frauen in Korea anlegt, sind eng und kurzsichtig, und Yong-Hye ist kompromisslos drauf und dran, diese Fesseln zu sprengen. Bei einem Abendessen mit ihrer Familie kommt es zum Eklat, als Yong-Hyes Vater, groß und stark, Kriegsveteran und Tatarliebhaber, seiner Tochter mit Hilfe anderer Familienmitglieder und ihres Mannes mit Gewalt Fleisch in den Mund schiebt und sie zwingt, es zu essen. Doch diese Nötigung kann Yong-Hyes Selbstbehauptung nicht brechen. Yong-Hye geht noch darüber hinaus, indem sie meint, eine Blume zu sein. Mit nacktem Oberkörper streckt sie ihre Brüste der Sonne entgegen, bewegungslos lässt Han Kang ihre Protagonistin zwischen zwei Bäumen stehen.

Während sich fast alle von ihr abwenden und ihr die Zurechnungsfähigkeit mehr oder weniger absprechen, fühlt sich Yong-Hyes Schwager, ein Videokünstler, seit dem Moment, in dem er erfahren hat, dass Yong-Hye einen Mongolenfleck hat, zu ihr hingezogen. Er lässt seinen erotischen Fantasien freien Lauf und verführt Yong-Hye langsam aber sicher, indem er ihren Körper mit Blumenmuster bemalt, sanft um den Mongolenfleck herum. Immer wieder treffen sich die beiden, während ihre Beziehung sich von Mal zu Mal intensiviert. Yong-Hyes Schwager ist somit der zweite Protagonist dieses Romans, der aus der Reihe tanzt, der ausschert und für seine Obsession alles riskiert.
"Langsam, als bewege sie sich zu einem Wiegenlied, beugte sie den Arm und zog die Beine an, bevor sie sich wie verlangt drehte. Er filmte ihre Seite entlang bis zu der sanft geschwungenen Hüfte. Dann schwenkte er zu den Nachtblüten auf dem Rücken und danach als Kontrast zu den Blumen auf der Vorderseite. Am Schluss wanderte er zu dem Mongolenfleck, der in diesem fahlen Licht nur noch ein grüner Widerschein seiner selbst war. Dann ging er, entgegen seinen Vorsätzen, nach kurzem Zögern zu ihrem Gesicht über, das zum Fenster gewandt war und mittlerweile ganz im Schatten lag. Die Lippen ohne klare Kontur, die Schatten unter den prominenten Wangenknochen, die breite Stirn zwischen den unordentlichen Haarsträhnen und die leeren Augen."

Diese Annäherung wird von Han Kang grandios inszeniert, bei jeder Begegnung kommen neue Elemente dazu, und die im Hintergrund lodernde Erotik ist nicht zu übersehen. All das, was Yong-Hyes Mann an ihr uninteressant und durchschnittlich gesehen hat, ist nun spannend und schön.

Bemerkenswert ist ebenso, dass Han Kang diesen in drei Teile unterteilten Roman aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Der erste Teil ("Die Vegetarierin") ist eine in der ersten Person gehaltene Erzählung von Yong-Hyes Mann. Der zweite und dritte Teil werden zwar aus der Sicht eines auktorialen Erzählers dargestellt, konzentrieren sich aber jeweils auf jene Person, die im jeweiligen Teil das größte Naheverhältnis zu Yong-Hye hat. Das ist im zweiten Teil ("Der Mongolenfleck") Yong-Hyes Schwager und im dritten Teil ("Bäume in Flammen") In-Hye, Yong-Hyes Schwester.
"'Was erzählst du denn da? Du glaubst wirklich, du seist ein Baum? Wie kann aber ein Baum sprechen? Wie kann ein Baum denken?' In-Hye sah ein kurzes Aufblitzen in Yong-Hyes Augen, gefolgt von einem geheimnisvollen Lächeln. 'Du hast recht. Bald werden das Sprechen und das Denken verschwunden sein. Es wird nicht mehr lange dauern.' Nachdem sie ein paar Mal gekichert hatte, rang sie schnaufend nach Luft: 'Wirklich nicht. Du musst dich nur noch ein bisschen gedulden.'"

Die drei Teile sind von jeweils zunehmender Länge und orientieren sich lose am klassischen Drama.  Während der erste Teil als Exposition herhält, ist der zweite Komplikation und Peripetie in einem. Der dritte Teil, nun auf In-Hye und Yong-Hye, die in einer Nervenklinik untergebracht ist, konzentriert, ist Retardation und Katharsis in einem langen Adagio zusammengefasst.

Während über einigen Momenten Franz Kafkas Silhouette zu schweben scheint, ist Han Kangs Roman "Die Vegetarierin" alles, aber kein Kafka-Verschnitt. Ohne jemals nach Kafka zu klingen, ist hier, vielleicht weil es einfach ist, es so zu bezeichnen, einiges "kafkaesk". In der Nahrungsverweigerung wird man auch Kafkas "Hungerkünstler" nicht ganz verdrängen können, wenngleich Yong-Hye mit ihm ungefähr so wenig gemeinsam hat wie Molly Bloom mit Heidi. Möglicherweise drängt sich auch der eine oder andere Vergleich mit Margaret Atwoods "Die essbare Frau" auf. Alle diese Reminiszenzen sind, wenn überhaupt, bewusst gesetzte Allusionen, denn Han Kangs Prosa ist so eigenständig und vollständig im Dienste ihrer Vorstellungen, dass man, wie selten sonst, von der ersten bis zur letzten Zeile gefesselt und überwältigt von dieser klaren, stilistisch kompromisslosen Erzählung ist. Sodass man vom ersten Moment an irgendwie spürt, hier etwas ganz Großes in Händen zu halten. "Die Vegetarierin" ist ein Roman, der beim wiederholten Lesen klar gewinnt, weil man ständig neue Feinheiten entdeckt, die man im literarischen Rausch der ersten Lektüre übersehen hat.

Bei der Interpretation der gewollten Aussage dieses Romans sind, wie bei großer Kunst immer, unterschiedliche Auslegungen möglich. Von der Auflehnung gegen die starren, patriarchalischen Konventionen in Korea bis hin zu einer nur in diesem Satz vielleicht esoterisch klingenden Selbstfindung. Letztendlich ist das Ziel Yong-Hyes die absolute Freiheit, die sie erreicht, ohne auch nur einen Gedanken an Konvention und irdisches Leben zu verlieren.

In englischer Übersetzung ebenfalls erschienen ist der Roman "Human Acts", der sich mit dem Gwangju-Massaker von 1980, in dem der damals durch einen Putsch zur Macht gekommene General Chun Doo-hwan auf brutale Art und Weise gegen die gegen die Militärdiktatur demonstrierenden Menschen vorgegangen ist, beschäftigt. Mehr als zweitaunsend Opfer waren damals zu beklagen.

"Die Vegetarierin" ist ein großartiger Roman, der, zumindest für diesen Rezensenten ein absolutes Meisterwerk darstellt. Großartig übersetzt, kann man dem "Aufbau Verlag" nur zu diesem "Coup" gratulieren und hoffen, dass die deutsche Übersetzung von "Human Acts" (2014) und, man darf ja hoffen, der anderen Romane ("Breath Fighting" 2010, "Greek Lessons" 2011, "Your Cold Hand" 2002 und "The Black Deer" 1998) von Han Kang bald folgen werden.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 08/2016)


Han Kang: "Die Vegetarierin"
(Originaltitel "The Vegetarian")
Übersetzt von Ki-Hyang Lee.
Aufbau, 2016. 190 Seiten.
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Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für ihr literarisches Schreiben wurde sie mit dem "Yi-Sang-Literaturpreis", den "Today's Young Artist Award" und dem "Manhae Literaturpreis" ausgezeichnet. Lien: http://www.writerhankang.com/