Klaus Taschwer: "Der Fall Paul Kammerer"

Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit


Der neue Darwin oder die verhinderte Karriere eines Wiener Biologen

Paul Kammerer war einer der brillantesten und glücklosesten Wissenschaftler seiner Zeit. Und er war einer der bekanntesten Biologen Österreichs in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, der mit aufsehenerregenden Experimenten an Amphibien über die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften und mit publikumswirksamen Auftritten für Furore in der Öffentlichkeit und für Diskussionen in der Fachwelt sorgte und mit einer Unzahl von populärwissenschaftlichen Artikeln und Vorträgen einem breiteren Publikum bekannt wurde.
Als 1926 die Nachricht von seinem Selbstmord die Runde machte, war die Bestürzung - und das Medienecho - groß. Zuerst wurden private Probleme, dann die angebliche Fälschung seiner Präparate als Ursache vermutet, was dazu beitrug, die Stimmung ins Negative zu kippen. Nur der sowjetische Kommissar für Aufklärung Lunatscharski, der Kammerer zum Professor in Moskau befördert hatte, schrieb innerhalb einiger Wochen ein Drama, das von einer gezielten politisch-religiösen reaktionären Verschwörung ausging. Bis heute gehören der Skandal um die Fälschung von Ergebnissen und der darauffolgende Selbstmord zu den spektakulärsten ungelösten Rätseln der neueren Wissenschaftsgeschichte. Ob Kammerer tatsächlich ein Fälscher und Betrüger war, oder ob er Opfer einer Intrige wurde, in einer umfangreichen Studie versucht der Wissenschaftsjournalist Klaus Taschwer nun die Hintergründe dieses Dramas herauszufiltern.

Paul Kammerer war ein Kind der Wiener Jahrhundertwende. Eine glänzende Karriere schien vor ihm zu liegen, ein außergewöhnliches Leben vorgezeichnet. Er war vielseitig begabt, obsessiv leidenschaftlich und exzentrisch. Ein blendender Redner, ein unermüdlich Arbeitender, ausgestattet mit einem großen Ego. In eine wohlhabende Wiener Familie hineingeboren, pflegte er früh seine besonderen Interessen. Er war Naturforscher, er war Komponist, er engagierte sich in unzähligen Vereinen, er war Freimaurer, Pazifist und Sozialist. Und er pflegte ein freizügiges Privatleben, wie seine hitzige Affäre mit Alma Mahler-Werfel zeigt.

Seine Karriere als Biologe begann er nach dem Studium der Zoologie an der Universität Wien an der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater, einer 1902 gegründeten privaten Institution für experimentelle Biologie. Dort war er mit dem Aufbau und der Weiterentwicklung des Tierbestands beschäftigt und mit den Experimenten, die ihn berühmt und berüchtigt machen sollten. Die aufsehenerregenden Ergebnisse über den Erwerb und die Vererbung neuer Eigenschaften schienen einen experimentellen Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften zu liefern. Es handelte sich um Grottenolme, denen die rudimentär vorhandenen Augen nachwuchsen, Feuersalamander mit veränderter Färbung und schließlich die Geburtshelferkröten mit unüblichen Brunftschwielen. Mit 30 Jahren habilitierte er sich, wurde aber durch den Ersten Weltkrieg nachhaltig aus seiner Forscherbahn geworfen. Sein Tierbestand ging im Laufe des Krieges verloren, und schließlich scheiterte Kammerer nach Kriegsende mit dem Antrag auf einen Professorentitel an der Universität Wien. Es beginnt eine Zeit mit neuen Forschungsschwerpunkten und beruflichen bzw. finanziellen Problemen, die mit einer Professur in Moskau gelöst zu sein schienen. Zeitgleich deckt ein us-amerikanischer Wissenschaftler an dem Belegexemplar der Kröte Manipulationen auf. Die berühmten Brunftschwielen waren mit Tusche unterspritzt. Im September 1926 begeht Kammerer Selbstmord.

Wie sehr der "Krötenküsser", wie er von Arthur Köstler in der bislang einzigen, 1971 veröffentlichten Studie genannt wird, nicht nur im Kreuzfeuer der verschiedenen Wissenschaftsschulen stand, sondern vor allem auch der Wissenschaftsszene an der Universität in Wien, wird von Klaus Taschwer überzeugend gezeigt. Ausführlich untersucht Taschwer die Bedingungen, unter denen an den österreichischen Universitäten Wissenschaft betrieben wurde. Dabei geht es primär gar nicht um die prekäre finanzielle Situation, unter der Wissenschaftler schon damals litten, sondern um den ideologisch-politischen Hintergrund, der eine bestimmte Wissenschaft ermöglichte oder verhinderte. Gerade die Universität Wien geriet Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr unter eine großdeutsche, deutschnationale, völkische, nationalkatholische, antisemitische Dominanz durch Professoren und Studenten, unter der ein bekennender Sozialist und Pazifist keine Chancen hatte. Hier verortet Taschwer auch unter Heranziehung aller verfügbaren Quellen den Ursprung der Fälschung der Präparate. War die Fälschung demnach eine ungeheuerliche Sabotage und Intrige? Angesichts dieser Wissenschafts-un-kultur dieser Jahre erscheint diese Schlussfolgerung durchaus plausibel.

Als "zweiter Darwin" und "neuer Darwin" wurde Paul Kammerer anlässlich einer Vortragstournee in den USA 1923 in der "New York Times" gerühmt. Drei Jahre später wurde ebendort in einem Nachruf seine Wirkung folgendermaßen zusammengefasst: Die "orthodoxen wissenschaftlichen Kreise" hätten seine Theorien nicht akzeptiert, "seinen Sozialismus missbilligend betrachtet, seine Bemühungen bekämpft, wissenschaftliches Wissen zu popularisieren, und verhinderten aus diesen Gründen die Erfüllung seines Traums, Professor in Wien zu werden".
Klaus Taschwer ist es nun gelungen, die politische Dimension dieser verhinderten Karriere zu benennen und den sogenannten wissenschaftlichen Skandal einer angeblichen Fälschung als eine politische Schandtat aufzuzeigen. "Der Fall Paul Kammerer" bietet mehr als die Aufarbeitung eines Skandals. Es ist Wissenschaftsgeschichte im besten Sinn, welche die persönliche und die wissenschaftliche Biografie mit den wissenschaftshistorischen, politisch-ideologischen und kulturhistorischen Rahmenbedingungen zusammenführt und auf diese Weise den wirklichen Skandal in der österreichischen Wissenschaftsgeschichte benennt.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 11/2016)


Klaus Taschwer: "Der Fall Paul Kammerer.
Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit"

Hanser, 2016. 352 Seiten, mit Abbildungen.
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Klaus Taschwer, 1967 in Judenburg geboren, studierte Soziologie und Politikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber des Wissenschaftsmagazins "heureka", Koleiter eines Universitätslehrgangs für Wissenschaftskommunikation und Redakteur im Bereich Wissenschaft beim "Standard" in Wien.

Ein Kochbuchtipp:

Claudia Nemec: "Almas Küche. Originalrezepte aus dem Kochbuch der Alma Mahler-Werfel"

Alma Mahler-Werfel zählte zu den schillerndsten Persönlichkeiten ihrer Zeit, und sie war eine der berühmtesten Salonièren Wiens. Berta Zuckerkandl, Arnold Schönberg, Richard und Pauline Strauss, Oskar Kokoschka, Maurice Ravel, Gerhart Hauptmann und viele mehr fanden sich gerne bei ihr ein. Doch was ließ Alma ihren illustren Gästen servieren? Auskunft darüber gibt ihr ganz privates Kochbuch: Viele Rezepte stammen noch von Almas Mutter, andere von Familienmitgliedern und Freunden. Von gefüllten Paprika, Fleischknödeln, Schinkencroquettes und Käsepudding bis hin zu Gugelhupf, Zwetschgenfleck und Topfentorte ist alles versammelt, was die Alt-Wiener Küche zu bieten hat, verfeinert um Almas spezifische Note. Sogar Alban Bergs "Leibspeise" und Walter Gropius' "Lieblingsmehlspeis" sind vermerkt.
Claudia Nemec hat aus Almas Sammlung 60 der besten Gerichte ausgewählt, sorgfältig recherchiert, selbst zubereitet und nur wenn nötig vorsichtig korrigiert, damit sie beim Nachkochen auch sicher gelingen. Sämtliche Speise-Fotografien hat sie liebevoll mit den passenden Requisiten inszeniert und aufgenommen, um den Wiener Charme vergangener Tage einzufangen. (Seifert)
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