Ismail Kadaré: "Die Dämmerung der Steppengötter"
Mehr als zwei Jahre lang, von
1958-1960, weilte der junge, 1936 geborene Ismail Kadaré als albanischer Gaststudent am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Nicht diese ganze
Zeit, sondern ausschließlich die letzten vier bis fünf Monate haben
Einkehr in den Roman gefunden, darunter das Ereignis, das den
Moskauaufenthalt Kadarés jäh beendete: die
anlässlich
eines Besuches geäußerte heftige Kritik Enver Hoxhas an der Sowjetunion,
welche den endgültigen Bruch der beiden kommunistischen Länder ein
Jahr später einleitete und die rasche Ausweisung der meisten in der
Sowjetunion lebenden Albaner zur Folge hatte.
Erst viele Jahre später, 1976, erschien in Albanien eine erste
Basisversion des Romans, 1981 in Paris eine französische Übersetzung, um
Stellen erweitert, die "angesichts der von Partei und Staat sanktionierten Prüderie in
der sozialistischen albanischen Volksrepublik nicht hatten veröffentlicht
werden können", wie der Übersetzer Joachim Röhm in seinem
Nachwort formuliert. Interessant zu erfahren wäre es auch gewesen, ob
die hier vorliegende deutsche Übersetzung genau der in Frankreich
erschienenen Fassung entspricht, schlicht unumgänglich hingegen, jene
Teile, die 1976 nicht hatten erscheinen können, genau zu kennzeichnen,
umso mehr es sehr stark anzunehmen ist, dass die besagte "albanische
Prüderie" sich erst recht auf politische Angelegenheiten erstreckte und
nicht nur eine Mauer war, die der Schriftsteller bei seinen
Veröffentlichungsversuchen nicht gänzlich überwinden konnte, sondern
Vorgabe, die schon beim Schreiben erfüllen zu sollen er glaubte
- eine künftige Ausgabe kann da sicher Abhilfe schaffen.
Das Licht jedenfalls, das
Kadaré auf diese Zeit des sogenannten Tauwetters und der
Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow fallen lässt, ist ein
höchst einseitiges, düsteres, was er - schriftstellerische Finte
- zugleich bewerkstelligt und wohl auch ein bisschen relativiert,
indem in diese zweite Jahreshälfte 1960 alles hineingepackt wird, was
sich an Negativem während des gesamten Aufenthaltes zugetragen hat. So
finden in der fiktiven literarischen Zeit dieses Romans sowohl die
Hetzkampagne des Staates gegen Boris Pasternak und dessen Roman
"Doktor Schiwago" (1958) als auch der durch einen aus Indien
zurückgekehrten Maler eingeschleppte Erreger der Pocken (Schwarzen Blattern)
und die damit verbundenen Zwangsimpfungen (von Anfang 1960) in den
Herbst des letzten Moskaujahres des Erzählers verdichtend vereint.
Prostituierte, die von der Polizei aus der unmittelbaren Nähe von Hotels
für Westeuropäer entfernt werden, und Folklore zu werden drohende Morde
verwahrloster Jugendlicher aus Fadesse runden den Gesamteindruck der
Fäulnis im flächenmäßig größten Staat der Erde, wie es einmal heißt, ab.
Die Gefahr wiederum, die von seiner Macht ausgeht, gemahnt den Erzähler
angesichts der Kuppeln der Basilius-Kathedrale des Kremls an eine
Vorstellung der slawischen Mythologie, an "ein furchtbares Haupt, das mitten in der
Steppe mit prall aufgeblasenen Backen einen Staubsturm erzeugte, der
alle Reiter, die am Horizont auftauchten, vom Pferd fegte."
Ebenfalls mit Pferd das heldische Gegenthema in Form der albanischen
(die kleinen Patriotismen in dem Romantext sind auffällig) Ballade, in
der der tote Bruder seinem gegebenen Ehrenworte treu die lebende
Schwester hoch zu Ross sicher nach Hause geleitet, ein sich durch den
Roman ziehendes Motiv.
Soviel zur Grundausrichtung - wie Kadaré diese umsetzt und die Geschichte seiner letzten Monate im Moskauer Gorki-Institut erzählt, ist die eines sehr begabten und subtilen Schriftstellers. Geschickt werden verfängliche Bereiche umgangen bzw. verschwiegen, abwechslungerzeugend und themenverknüpfend führen auswärtige Szenen immer wieder vom Hauptort der Handlung, dem Institut, weg, die Studenten vermögen bei einem Skiausflug nach Peredelkino zufälligerweise Boris Pasternak bei der Gartenarbeit zu erspähen und das Manuskript des "Doktor Schiwago" gelangt dem Erzähler in die Hände. Der Kreml, das zentrale Telegrafenamt und andere Moskauer Einrichtungen erwecken sehr subjektive, originelle Eindrücke, im Café Praga, dem einzigen in der Stadt, wo man einen guten Mokka bekommt, diskutiert der Erzähler mit einem griechischen Freund zwischen den Zeilen und sinnt dabei auf Verrat. "Freund" ist eigentlich zu viel gesagt, eher nimmt der Erzähler so ziemlich die Position Enver Hoxhas ein (der Institutschinese spricht leider ein unverständliches Russisch), hält sich gern abseits, lässt sich auf keine engeren Männerfreundschaften oder deutlicheren politischen Gespräche ein, nimmt sich, von Liebesdingen und seiner ganz speziellen Beobachterrolle abgesehen, in dem Roman überhaupt sehr zurück, um sich dann allerdings manchmal, bei guter Gelegenheit, in vorteilhaftem Licht zu präsentieren, einem bekannten Institutsdenunzianten dies beim Abschied auf den Kopf zuzusagen beispielsweise.
"Wahrscheinlich gab es auf der Welt kaum einen anderen Ort, wo auf so engem Raum so viele Träume vom unvergänglichen Ruhm blühten."
So heißt es anfänglich über das berühmte Maxim-Gorki-Institut, unter der Oberfläche sehen die Dinge freilich anders aus. Missgunst, Gefälligkeitswirtschaft, Spitzelwesen, Unsicherheiten um die korrekte politische Haltung dominieren, alle Gespräche, die freundschaftlichen wie die vorsichtigen und misstrauischen, finden unter der mehr als dunkel denn als bedrohlich heraufbeschworenen Glocke des Kollektivismus statt. Und der Unterricht ist oft mäßig interessant, und sei es, weil der Professor "von Gräbern redete, so daß alle an ihre künftigen eigenen Gräber oder ihre eigenen Gedichte auf den künftigen Gräbern der einstigen Geliebten denken mußten, die diese Ehre wahrscheinlich gar nicht verdienten, weil es sich um langweilige Affären voller Enttäuschungen und verdächtiger Pusteln gehandelt hatte." Die Studenten selbst werden von einem ganz zu Beginn vor Begeisterung vibrierenden jungen Mann aus dem Altai-Gebirge, der davon träumt, die schönste Moskauerin zu erobern und ihr seine Jungfernschaft zu opfern, schon nach ein paar Monaten schockiert als "Dämonen des sozialistischen Lagers" bezeichnet.
Schließlich gerät die (in Bezug auf das Zustandekommen dubiose) Literaturnobelpreisvergabe an Boris Pasternak (zu dessen literarischen Qualitäten wie auch zum sogenannten sozialistischen Realismus übrigens vollkommen geschwiegen wird) mit einem etwa dritteligen Anteil an dem Gesamtroman zum Höhepunkt von Kadarés Abrechnung mit dem sowjetischen Literaturbetrieb: Die andauernde Stimmungsmache in den Radios und Zeitungen des Landes (der sich Bauern, Bergwerksarbeiter, Bienenzüchter etc. mit eigenen empörten Stellungnahmen nicht entziehen können) wird anschaulich wie subjektiv beschrieben, das Getuschel in den Hörsälen angedeutet, wichtige Reden wichtiger sowjetischer Literaten (ein paar bekannte Figuren dieser Zeit werden durchaus mit Namen genannt) werden ebenfalls sehr subjektiv, manches nennend, manches andeutend, vieles weglassend, wiedergegeben.
"Formlos
der
Himmel
wie das Gehirn eines Idioten
Trostloser Regen überschwemmt die Straßen."
Und für diesen Vers ist der
angehende Dichter im Lyrikunterricht scharf kritisiert worden.
Eine andere sehr dichterische Stelle ist die, in welcher die
Stockwerke des Literaturinstituts und ihre diesbezüglich geordneten
Bewohner mit den Höllen in Dantes
"Inferno" verglichen werden. Den Höhepunkt des Institutslebens
stellt ein gewaltiges Massenbesäufnis mit allerhand Vorfällen (vor Reue
heulenden "Denationalisierten", aus dem Fenster springenden Mongolen,
Lesungen aus Werken, die nie das Licht der Welt erblicken werden,
Größenwahnanfällen etc.) dar.
Als es dann in die Volksrepublik Albanien (eine hübsche Stelle über die Ausstrahlung des
eigensinnig-unabhängigen kommunistischen Albaniens auf diverse linke
Kreise in Westeuropa findet sich übrigens in
Juan Goytisolos Roman "Landschaften nach der Schlacht") zurückzukehren heißt und der Erzähler seine
Kollegen ein letztes Mal zu Gesicht bekommt, blickt er in höhnische, mitleidige, zweifelnde, leise Sympathie
bekundende Augen.
Über die sowjetischen Frauen kann er kaum etwas Schlechtes sagen, deren Abwesenheit während der pockenbedingten
Quarantäne macht bei den Studenten erst die reinigende Wirkung, die
sonst von ihnen ausgegangen ist, spürbar. Drei kleinere, geschmackvoll
erzählte Liebesgeschichten (eine Lettin, zwei Russinnen) huldigen in dem
Buch balkanisch-sanft dem weiblichen Wesen.
"Die Dämmerung der Steppengötter" ist bei all seiner einseitigen
Ausrichtung (was das Buch beim
Erinnern bzw. Dichten an Heiterem, Interessantem, Komischem, Positivem
gewaltsam aufspart, wird ihm nicht an moralischem Zusatzgewicht
vergolten, eher im Gegenteil) ein
sehr dichter, überlegter Roman, der auch in Zukunft nicht nur
Literaturwissenschaftler, Literaturhistoriker und Albanischstudenten
beschäftigen wird.
(fritz; 12/2016)
Ismail
Kadaré: "Die Dämmerung der Steppengötter"
(Originaltitel:
"Muzgui perëndive të stepës")
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
S. Fischer, 2016. 208 Seiten.
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