Alexander Ilitschewski: "Der Perser"


Anfang des Jahres ist bei Suhrkamp ein bemerkenswertes, auf seine Weise herausragendes Buch erschienen: "Der Perser" von Alexander Ilitschewski verkauft sich zwar als Roman, hat aber auch sehr viel von einem Sachbuch, genau genommen von mehreren, welche wiederum in ihrer Gesamtheit - verlockend dies zu sagen, da Ilitschewski einen solchen schon über Jerusalem verfasst hat - als tiefgründiger Reiseführer dienen können. Eingeführt wird dabei in Gesellschaft, Mentalität, Geschichte, Wirtschaft, Geologie und Geografie von Aserbaidschan, dem Land, in dem der Autor selbst geboren und aufgewachsen ist. Da es sich bei dem vorliegenden Buch um eine für den deutschsprachigen Markt überarbeitete Version des 2010 in Moskau ersterschienenen Romans handelt, kann hierbei gleichsam von einem deutschen Perser gesprochen werden.

Historisch beschränkt sich das Buch hauptsächlich auf das 20. Jahrhundert, markante Daten wie etwa das Schreckensjahr 1937, wo ein Flüchtling des stalinistischen Terrors, wenn er es denn bis Baku schaffte, schon mit einem Bein im indischen Exil war, die Kindheit des Erzählers in den Siebziger- und Achtzigerjahren und die Erzählgegenwart zu Jahrtausendbeginn, dies alles so umfassend und reich an Querverweisen, dass dabei ein recht plausibel und ausgewogen wirkendes Bild Aserbaidschans erzeugt wird. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Jahren des Bürgerkriegs und der allerersten Sowjetzeit der frühen zwanziger Jahre. Damalige Bestrebungen und Hoffnungen der Beteiligten, Gräuel, Intrigen und womit sonst noch die gravierenden Veränderungen im Land einhergegangen sind, gelangen ausführlich zur episch-breiten, dabei Genauigkeit und Relevanz des Details nicht vernachlässigenden Sprache. Eine Person, die die damalige mit der nunmehrigen Übergangszeit verknüpft und der deswegen, obwohl seit 1922 tot, viel Raum und Ausarbeitung gegeben wird, ist der russische Avantgardist Welimir Chlebnikow, berühmter wie schwieriger Dichter, Sprach- und Zahlenmystiker, den es nach Aserbaidschan verschlagen hatte, dessen genial-verrückte, spirituelle bzw. derwischartige Erscheinung die roten Revolutionäre bei ihrem Versuch, Persien an die kommunistische Internationale anzuschließen, einst ausspielen hatten wollen.

Das Schicksal der Russischstämmigkeit, naturwissenschaftlichen Hintergrund und mancherlei sonst teilt der Icherzähler mit Ilitschewski. Von einem alter ego kann jedoch nur bedingt gesprochen werden, da sich der Erzähler meist sehr auf seine wiedergebende oder rein informative Rolle beschränkt, selbst wenn er als Ex-Ehemann oder enger Freund spricht, beschränkt er sich auf durch den zeitlichen Abstand noch distanzierter wirkende Grundgefühle, wie der Roman überhaupt von einem kühlen, naturwissenschaftlichen Naturell geschrieben ist. Dieser Ilja Dubnow, so heißt der Erzähler, befindet sich nach langer Zeit, wo er in Russland, Israel, den USA, den Niederlanden und anderen Ländern weilte, meist als Geologe sein Geld bei Ölfirmen verdienend,  auf dem Weg in die alte, naturgemäß sehr veränderte Heimat. Der "Perser", den er dort nicht vergebens wiederzutreffen hofft, geflüchteter Sohn eines nach der iranischen Revolution getöteten Geheimdienstoffiziers, ist sein alter Freund und Spielkamerad Hasem, mit dem er schon seinerzeit die Gegend unsicher machte, die Knaben dem Wachpersonal der Erdölförderanlagen gefürchtetere Widersacher waren als kaum in Erscheinung tretende Spione oder Saboteure.

Seinen Freund findet er gereift, mit einer unwiderstehlichen Ausstrahlung auf die Menschen seiner Umgebung, jedoch voll seltsamer Vorstellungen und Ideen, offiziell arbeitet er als Ornithologe im Naturpark Schirwan an der Grenze zum Iran, tatsächlich ist er als Guru, Tierzüchter, Wahrheitssucher, Dichter (nicht nur hierbei lässt der Perser sich vom Vorbild Chlebnikows inspirieren), Derwisch und Händler in einem tätig. Ilja, selbst ein Suchender, vermag sich der Persönlichkeit Hasems nicht zu entziehen und wird zu einem bedingten, trotz allen intensiven Umgangs Distanz wahrenden Teil der Hasem verehrenden Anhängerschaft. Die wichtigsten Personen aus diesem Kreis, aber auch andere in Aserbaidschan lebende Einheimische und Ausländer werden ebenfalls genau beschrieben, anhand dessen die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnisse des Landes ausgiebig beleuchtet.

Expeditionen in die Tierwelt der Schirwan-Steppenlandschaft bescheren dem Leser zahlreiche zoologische Ausführungen. Gazellen und Kamele, waidwunde Wildschweine und rachsüchtige Schildkröten, Spinnen-, Fisch- und vor allem Vogelarten, darunter zwei echte Sterne, die Kragentrappe und der Sakerfalke, erfahren eine Würdigung, dass es für Liebhaber von Tierdokumentationen eine wahre Freude ist. Auf die Landschaften und die Pflanzenwelt des Landes wird ebenfalls gehörig eingegangen, meist nüchtern und sachlich, bei Kindheitsbezug wie im Fall der kastanienblättrigen Eiche auch einmal persönlicher: "So ein Baum ist wie ein Reich für sich: Nimmt man den Stamm zwischen die Arme und tastet sich, über die Wurzelrücken stolpernd, bedächtig rundherum, gerät man mit der Nase in Täler und Klüfte, mit Holzsaft vollgesaugte Mooskissen - Tränken für Hornissen -, und es schwindelt einen vom Sog empor, in die Krone hinein, auf die zahllosen Traversen, Balkons und in die Sonnenweiler."

Da um Baku und überhaupt an der Westküste des kaspischen Meeres massenhaft das liebe Erdöl lagert, widmet auch der Roman diesem wichtigsten Rohstoff des Landes viele Seiten, der Frühzeit, als noch die Familien Nobel und Rothschild in Aserbaidschan ihr Vermögen mehrten, den Fördermethoden und Arbeitsbedingungen, als Iljas Vater in der Branche tätig war, der heutigen Situation, wo sich internationale Konzerne aus verschiedenen Ländern das Fördergebiet teilen müssen. Die Position Aserbaidschans zwischen Erdöl und Moral, Europa und Asien, Ost und West, Süd und Nord, Islam, Christentum und Atheismus ist denn auch immer mitenthalten bei den zahlreichen Diskussionen unterschiedlicher Qualität, die Hasem und Ilja über die Lage der Welt und des Menschengeistes führen. Die konfessionsübergreifende Vorstellung, "das eigene Bewusstsein als Dialog zwischen Mensch und Gott zu denken", findet sich da ebenso wie die Behauptung, dass die Gewöhnung an den Tod zum Unerbittlichsten gehöre, was die Zivilisation uns zumutet. Dass letzterer Satz just der östlicheren der beiden Hauptfiguren, dem Perser, in den Mund gelegt wird, macht eine gewisse Eurozentriertheit (Nordamerika, Russland und wohl auch Australien mit eingeschlossen) offenkundig, ein tieferes Eindringen in religiöses Bewusstsein (neben teils sehr berechtigter Kritik an oberflächlichem, dem reinen Auswendiglernen von Koranstellen, dem Verharren in längst grundlos gewordenen Ehrenbegriffen und ähnlichem) gelingt Ilitschewski bei allem Willen zur Ausgewogenheit nicht.

Als regelrecht tendenziös hingegen muss bezeichnet werden, dass die sympathischste und mutigste Nebenfigur, ein seltener Ausländer, der sich für die fremde Kultur und Sprache interessiert und gegen Ende sogar daran denkt, eine Einheimische zu heiraten, ausgerechnet ein halbpensionierter us-amerikanischer Kampfflugzeugpilot ist (welches Sprichwort einem da wohl in den Sinn kommt), oder dass die meisten Moslems als in Summe doch recht rückständig, amerikanisch-europäischer "Fortschrittlichkeit" und Modernisierung bedürftig dargestellt werden, Ausnahme selbstverständlich Sufis, im Angesicht derer der Europäer/Amerikaner ob seiner Vorurteile vor Scham weint. Dem Islamismus wiederum begegnet man als diabolo ex machina in Gestalt des vielgesuchten saudischen Großterroristen Osama, der als Falkner getarnt in der Wüste Aserbaidschans herumstreift, "müde, darüber nachzudenken, was Allah von ihm will", wissend, dass ihn der Hass, den er mehr durch Zufall als Verdienst immer noch symbolisiert, überleben wird, der zwar nicht für Neues zum Thema politischer Islam, wohl aber entgegen dem gemächlich und breit erzählten Roman für ein unerwartet dramatisches Ende sorgt.

Glücklicherweise sind der tendenziösen Stellen wenige, meist ohnehin gänzlich vergraben unter der Masse des vielseitig Faktischen. So muss man nur weniges übertauchen, um zum vollen Genuss dieses inhalts- und umfangreichen Aserbaidschanromans zu kommen, der hin und wieder den nüchternen Ton verlassend große Sprachgewalt entfalten kann, wenn sich - ein letztes Beispiel - der Erzähler am äußersten Ende einer Ölplattform aufhält "und die Plattform mit ihren beständig knarrenden Planken, in ihrem gespenstischen Ausmaß, der Unwirklichkeit einer schwimmenden Stadt, fasst dich von hinten an, lässt dich erstarren - am Rande stehend, ist die Irritation am spürbarsten, du siehst den Turmriesen in seiner ganzen Größe, er scheint sich aufzuschaukeln, kippen zu wollen in deine Seele, kippt, Herr im Himmel! - pendelt zurück wie ein Kreisel, kreiselt wie blöde ... Sich dann umdrehen, über die eisige Brüstung lehnen, den Kopf hineinstrecken ins stürmische, Nebelfontänen sprühende Nichts - das hat etwas."

(fritz; 08/2016)


Alexander Ilitschewski: "Der Perser"
(Originaltitel "Pers")
Aus dem Russischen von Alexander Tretner.
Suhrkamp, 2016. 750 Seiten.
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Alexander Ilitschewski, 1970 in Sumgait/Aserbaidschan geboren, wuchs in Moskau auf und studierte dort Mathematik und Theoretische Physik. Nach Arbeitsaufenthalten in Israel und den USA kehrte er 1998 nach Russland zurück. Sein umfangreiches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Seit 2013 lebt Ilitschewski in Jerusalem.