André Heller: "Das Buch vom Süden"
Autobiografisches oder nicht, dritte Person hin oder her - es steckt viel von André Heller, nicht zuletzt seine Sympathie und wohl die meisten seiner Gedanken und Vorstellungen in der Hauptfigur seines Romandebuts. Julian Passauer heißt diese und wächst kurz nach dem zweiten Weltkrieg als Sohn des stellvertretenden Direktors des Wiener Naturhistorischen Museums (die Mutter wird nicht ohne Zärtlichkeit stets Mama genannt) in keinem geringeren Bauwerk als dem Schloss Schönbrunn auf. Die zahllosen Prachtzimmer mit ihren Reminiszenzen und Auren, die Dachböden der Nebengebäude, der weitläufige Garten mit seinen Fischteichen und Alleen, die Gloriette, der Zoo, das Palmenhaus, in dem Julian Stunden um Stunden verbringt, dazu noch die Eltern des Einzelkindes, jüdische Großbürger, die ihrem Sohn früh die Liebe zu Kunst und Kultur mitgeben und pädagogisch recht entschiedene Auffassungen (z.B. dass es nichts gäbe, was man den Ohren des Sohnes verbergen müsste) umsetzen: man kann sich vorstellen, dass ein in solchem Umfeld Aufwachsender besondere Wahrnehmungen und Fantasien entwickelt und dabei mitunter auf Andere ziemlich, wie ihn einmal während der Osterferien eine Tirolerin nennt, überspannt wirken mag; in einer Kurzbeschreibung seines Schöpfers ist der junge Julian "ein größtenteils in der Phantasie verwurzelter, zarter, ein wenig wundersüchtiger, aber durchaus den Fährnissen des Lebens gewachsener Mensch."
Im ersten von zwei Teilen des Buches kommen ausführlich Kindheit und Jugend Julians zur Sprache, es wird von besonderen Vorkommnissen, Spielen und Spielkameraden, von den übrigen Schlossbewohnern und den Bekannten und Freunden seiner Eltern erzählt, einem schreckliche Geschichten bergenden Holocaustüberlebenden ebenso wie einem sogenannten Hauswüstling, und insbesondere vom Grafen Eltz, dem epikureischen, nie um eine originelle Sicht verlegenen Freund der Familie. Manches von dem, was André Heller uns da so alles erzählt, mag seine Existenz in dem Buch vom Süden weniger seinem Stellenwert für Julian als dem Willen des Schriftstellers, es der Nachwelt als Erinnerung und Gruß eines (mehrerer) alten, sehr speziellen und in seinen Überbleibseln exzentrisch wirkenden Wiens zu erhalten, verdanken, wobei außer Felix Braun und Hermann Leopoldi sowie in Kurzauftritten Hans Moser, Paula Wessely und Gunther Philipp keine unverkappten Personen des öffentlichen Lebens jener Zeit auftauchen. Anderes ist, wenn nicht wahr, dann gut erfunden, wenn etwa der ein Gespräch seiner Eltern nicht so ganz verstanden habende Julian in der Schule im Heimatkundeunterricht mit der Behauptung, Österreich wäre deshalb noch immer von den Russen, Franzosen, Amerikanern und Engländern besetzt, weil die Bevölkerung sich und andere nicht genügend wirklich liebe, einiges Aufsehen verursacht.
Von allem, was ihm beide Eltern vererben, ist die Sehnsucht nach dem Süden wohl das Geheimnisvollste, Weitreichendste. Süden als mit der Monarchie verlorene Adriaregionen, als Gegenteil des nassen, siebenmonatekalten, mieselsüchtigen Wiens, als Ort, wo Anmut, legerté und Eleganz gedeihen, als Utopie und Topos ... - der Roman spannt einen weiten Bogen.
Ehe wir jedoch im zweiten Teil von Julians erstem Versuch, im Süden heimisch zu werden, hören, müssen wir mit ihm durch ein kurzes Intermezzo hasten (dieser Teil wäre möglicherweise als weiter gekürzte Rückblende im zweiten Teil besser aufgehoben gewesen), eine anlässlich der bestandenen Matura von den großzügigen Eltern finanzierte Schiffsrundreise um Afrika, ein Kurzstudium und ein gutes Jahrdutzend erfolgreichen Geldverdiensts an ständig wechselnden Schauplätzen, bis er sich schließlich im italienischen San Celeste am Gardasee niederlassen wird.
Der Ort erscheint Julian zunächst als "so etwas Ähnliches wie eine wohlsortierte Narreninsel im Ozean der allgemein akzeptierten Konventionen", während manche Einheimische rätseln, "ob ihr neuester Zugereister ein Milliardär bar jeder Sorge war, eine Art buddhistischer Dauerlächler oder ein allzu optimistisch stimmenden Drogen Ergebener".
Im weiteren erleben wir den in den Besitz einer Villa Gelangten und, wie Julian sich selbst gerne bezeichnet, fleißigen Taugenichts in seinem Wurzelschlagen und einigen seiner Entfaltungsversuche. Zuallererst gemeinsam mit Frauen, denn durch die Sesshaftigkeit wird auf einmal die Liebe (als sich deutlich vom Gspusi unterscheidend) wieder großes Thema - die Frau als Ergänzung und Krönung der südlichen Harmonie, zwei drei Liebesgeschichten mit ihren Ver- und Entwicklungen nicht ohne magische Momente.
Auch die Beschreibung der Welt von San Celeste kommt nicht zu kurz, die Sitten und Gebräuche des Ortes und einige Bewohner, derer sich viele in puncto Exzentrizität vor der Schönbrunner Schickeria nicht zu verstecken brauchen. Besondere Bedeutung kommt Julians Nachbarn, dem Notar Doktor Granda, und dessen Eidechsengarten zu. Dieser Eidechsengarten, ein zum See hinunterführender sanfter Hang mit labyrinthisch angelegten Pflanzen aus den verschiedensten Klimazonen, worin die unterschiedlichsten Gerüche und Geräusche, Licht und Gegenlicht einen sinnlichen Mikrokosmos bilden, wird Julian zum beständigen Ort des Rückzugs und der Kontemplation. "Der Mensch als Spezies war bis auf Widerruf als etwas ziemlich Vertrotteltes enttarnt, und der Doktor Granda hoffte rührend naiv und stur auf seinen Eidechsengarten als schönen Schock zur Heilung des Todestriebes der aufrecht gehenden und Kleider tragenden Lemminge." Vielleicht eh nicht ganz naiv, denn in einer Eidechsengartengeschichte vermag der Garten im Zusammenwirken mit in ihm ruhenden Reliquien ungeahnte Kräfte zu entwickeln.
Julian liebt, beginnt für den Eidechsengarten sogenannte Gedankenskulpturen zu entwerfen, nimmt am Gemeindeleben teil, spielt am Klavier diverse österreichische Meister (die heimischen Klänge würden hervorragend zur Landschaft um den Gardasee passen), berichtet seiner abessinischen Haushälterin auf Wunsch regelmäßig vom Inhalt einzelner Bücher aus seiner Bibliothek, sodass nun der kaiserliche Nasentropfen aus Joseph Roths "Radetzkymarsch" auch irgendwo in ihrem inneren Bezugssystem herumhängt, beschäftigt sich mit Lebensfilososofie (die welterschaffenden Menschengedanken, die Wichtigkeit von Liebe, Dankbarkeit und Ichloswerdung werden betont, der scheinbar bescheidene Anspruch, die Welt weniger blöd zu verlassen, als man sie betreten hat, ausgesprochen), und auch die Fasen der Niedergeschlagenheit, väterliches Erbteil, werden nicht unerwähnt gelassen. "Sie müssen gar nichts und dürfen viel, und trotzdem hüpfen Sie nicht vor Glückseligkeit. Ist Ihnen das bewusst?" muss er sich da anhören.
Dieser ganze Alltag während Julians Zeit in San Celeste, ehe ihm die Schlussvision des Romans einen neuen Bestimmungsort weist, ist anschaulich, mit Sinnlichkeit und angemessenem Tempo beschrieben. Vielleicht ist ein wenig zu bedauern, dass André Heller die recht ätherische Atmosfäre nicht durch ein paar tiefere Einblicke in das Seelenleben Julians, welches besonders im zweiten Teil nur, insofern es mit dem Hauptthema des Südens zusammenhängt, punktuell, dezent und gleichsam die Privatsfäre der Romanfigur schützend zur Sprache kommt, oder durch so etwas wie eine Hellersche Version vom gelungenen Tag mit mehr Erdanziehungskraft versehen hat. Wo beispielsweise die Verbindung von Erdreich und Himmelsstreben sehr gut zum Ausdruck kommt, ist die Sprache selbst, wenn zahlreiche sich harmonisch in die Hochsprache einfügende wienerische und österreichische Wörter die Herkunft des Kosmopoliten, dem mit "Das Buch vom Süden" ein hübsches, nicht unelitäres, sehr eigenes und nicht zuletzt gutes Buch gelungen ist, bezeugen.
(fritz; 05/2016)
André
Heller: "Das Buch vom Süden"
Zsolnay, 2016. 336 Seiten.
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