Christoph Hein: "Glückskind mit Vater"
Der
Vergangenheit entkommt man nicht
Der 1944 geborene Christoph Hein ist wohl zweifellos einer der
wichtigsten Schriftsteller seiner Generation. Ein Autor, der wie
Wolfgang Hilbig, Christa
Wolf und der viel zu früh verstorbene Werner
Bräunig nicht aus der Literatur der DDR wegzudenken ist.
"Glückskind mit Vater" heißt sein neuester Roman,
der mit seinen 527 Seiten in puncto Länge nur an den weitere
zehn Seiten längeren Roman "Frau Paula Trousseau" herankommt.
Interessanterweise besteht Christoph Hein in diesem Fall darauf, dass
der hier erzählten Geschichte authentische Vorkommnisse
zugrunde liegen und die Personen der Handlung nicht frei erfunden sind.
Als eine Journalistin der Lokalzeitung den pensionierten Direktor
Konstantin Boggosch (geboren als Müller) zum Anlass der
Wiedereröffnung des soeben sanierten Schulgebäudes zu
einem Gespräch bittet, weigert er sich recht
unhöflich und besteht darauf, seine Vergangenheit als "abgeschlossenes
Präteritum" deklarieren zu dürfen.
Zusätzlich trifft fast gleichzeitig ein Brief der
Steuerfahndung ein, der an Konstantin Müller adressiert ist.
Das veranlasst Boggoschs Frau Marianne, sich etwas eingehender mit
seiner Vergangenheit zu beschäftigen.
Glücklicherweise kann er sie rechtzeitig auf einen
Kuraufenthalt verabschieden, bevor Dinge ans Licht kommen, die er gerne
weiterhin im Dunkeln haben möchte. Mit dieser Verabschiedung
beginnt der Lebensbericht Boggoschs, der nun aus der ersten Person
erzählt wird.
Geboren als Sohn des Kriegsverbrechers Gerhard Müller,
Direktor der "Gummiwerke Vulcano" und reichster Mann in G., das
wahrscheinlich Schkopau sein soll, dem damaligen Sitz der "Buna-Werke".
Der Vater also Verfechter der nationalsozialistischen Idee, der sein
Werk um ein Konzentrationslager erweitern will. "Vernichtung
durch Arbeit" sein Motto. Obwohl Konstantin seinen nach dem
Krieg in Polen hingerichteten Vater nicht mehr kennenlernt, verfolgen
ihn die Fabrik und die Aura des Vaters in seinen Albträumen.
Die Mutter, enteignet, verarmt und geächtet, nimmt nach dem
Krieg wieder ihren Mädchennamen Boggosch an. Konstantin darf
nicht auf das Gymnasium und flieht, um nicht eine Lehrstelle antreten
zu müssen, als Vierzehnjähriger über
Marienfelde nach München zu einem Bruder des Vaters. Dieser
ekelt ihn jedoch schnell wieder aus dem Weg, gibt ihm aber Geld
für den Besuch eines Gymnasiums. Konstantin flieht nun weiter,
bis nach Marseille, wo er zunächst hofft, in die Fremdenlegion
eintreten zu können. Chancenlos auf diese Tätigkeit,
erhält er eine Anstellung in einem Antiquariat, bei drei
Widerstandskämpfern, die ihn unter ihre Fittiche nehmen.
Obwohl er sich freudig als Franzose fühlt, auch nicht mehr als
Kind eines Naziverbrechers, spielt ihm das Heimweh übel mit,
und so reist er knapp vor dem Mauerbau zurück in seine alte
Heimat.
Dort holt er seine Schulbildung nach und findet wieder Anstellung in
einem Antiquariat. Die Filmhochschule verweigert ihm aufgrund von
unterlassenen und verheimlichten Angaben zu seiner Person die Aufnahme,
sein privates Glück leidet ebenso wie seine Mutter, die,
verfolgt von den Dämonen ihres hingerichteten Mannes,
zugrundegeht. Konstantin wird Lehrer, obwohl er auch in diesem Beruf
immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert und behindert wird.
Nur langsam kommt er voran, bis er am Ende Direktor des "Pestalozzi
Gymnasiums" wird.
Letztendlich kann man seiner Vergangenheit, auch wenn diese
unverschuldet ist, in einem Staat wie der DDR nicht entkommen. Das ist
wohl die Botschaft, die hinter diese Geschichte steckt, die, wie
Christoph Hein eingangs behauptet, nicht wirklich erfunden ist.
Nichtsdestotrotz hat er es geschafft, diesem Roman Leben einzuhauchen,
das den Leser nie daran denken lässt, dass es sich hier
tatsächlich um eine Nacherzählung der
Lebensgeschichte einer wirklichen Person handeln würde. Die
Figuren werden zu typischen Protagonisten Christoph Heins, die seine
persönliche Handschrift tragen.
Nicht alles, was in diesem Roman so passiert, ist allerdings immer
glaubhaft oder gar vollends überzeugend. Schon Konstantins
Flucht, zuerst nach Westdeutschland, von dort dann nach Marseille,
kommt einem in vielen Punkten vielleicht für einen
vierzehnjährigen Jungen dann doch zu abgebrüht vor.
Auch seine Erlebnisse und das Geschehen in Marseille zu klischeehaft,
von der französischen Fischsuppe und der ständigen
Weintrinkerei. Ebenso die Verführung des jungen Konstantins
durch eine dreißigjährige Französin, die
aus einem französischen Film stammen könnte -
pubertäre Träume schlechthin. Die eine oder andere
Formulierung ist ebenso holprig geraten, allerdings könnte es
sein, dass Christoph Hein speziell die Ereignisse in der DDR, vor allem
jene, die in Verbindung mit offiziellen Stellen vorkommen, bewusst so
gezeichnet hat.
"Glückskind mit Vater" ist ein sehr lesbarer, teilweise
mitreißender, teilweise aber auch sehr befremdlicher Roman,
der vielleicht ganz groß hätte werden
können, wenn vielleicht einmal weniger ausgesprochen worden
wäre, oder wenn der eine oder andere Ausdruck von Machismo
entfernt worden wäre, man fragt sich doch zum Beispiel etwas
überrascht, warum der pensionierte Direktor mit der nach einem
Interview fragenden Journalistin so überheblich und sexistisch
umgeht, sie u.A.
"Mädchen" und "Redaktionsmaus"
nennt.
Fazit:
Trotz der bereits angeführten Einwände ist
"Glückskind mit Vater" ein wirklich guter, sehr
empfehlenswerter Roman, sicherlich auch als historisch wichtiger
Deutschland-Roman. Allerdings nicht ganz in dort, wo bereits
"Landnahme" und "Paula Trousseau" waren.
(Roland Freisitzer; 04/2016)
Christoph
Hein: "Glückskind mit Vater"
Suhrkamp, 2016. 527 Seiten.
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