A. F. Th. van der Heijden: "Das Biest"


Zweites Intermezzo

Dreiundzwanzig Jahre ist es her, dass A.F. Th. van der Heijdens "Die Schlacht um die Blaubrücke", der Prolog seines mehrteiligen Zyklus "Die zahnlose Zeit", veröffentlicht wurde. Es folgten weitere, unter Anderem auch mehrteilige Bände, die sich mit dem Leben des Albert Egberts beschäftigten, der am 30. April 1950, dem Königinnentag, geboren wurde. Das erste Intermezzo, von Van der Heijden explizit so genannt, ist ein Porträt des zu kurzen Lebens von Alberts Cousin Robby, der seiner Leidenschaft zum Opfer fällt. Nun erscheint mit dem Roman "Das Biest" ein weiterer Band, der zwar von Albert erzählt wird, sich aber mit seiner Tante Tiny beschäftigt. Deshalb könnte man auch hier von einem weiteren Intermezzo sprechen.

"Wann immer Tante Tiny ein Wohnzimmer betrat, selbst bei wildfremden Leuten, zog sie sofort ein knallgelbes Staubtuch aus ihrer Jackentasche, um damit unauffällig links und rechts über die Armlehnen zu wischen."
Mit diesen Worten beginnt der Prolog des Romans, der die heiter schrulligen Momente rasch hinter sich lässt. Wer Van der Heijden kennt, weiß, dass ihm nichts ferner liegt, als biedere oder gar liebliche Geschichten zu erzählen. Im darauffolgenden ersten Kapitel verdunkelt sich schon der Umriss der nur zwölf Jahre älteren Tante Alberts, der sich, nun erwachsen und Schriftsteller, mit dem Leben seiner Tante auseinandersetzt. Er erzählt, dass seine Tante Tiny, die wegen ihres neurotischen Putzwahns in der Familie "Tientje Putz" genannt wird, einfach keinen Verehrer an sich binden konnte.
"An ihrem Äußeren lag es nicht. Sie war ein schönes Mädchen, die Hübscheste von fünf Geschwistern, obwohl ihre älteste Schwester, meine Mutter, ebenfalls als Schönheit galt (bis sie noch vor ihrem Dreißigsten aus Sorge und Krankheit zu welken begann)."

Die Tante, die später selbst zu wirklich eleganten Kostümen eine kurze Dienstmädchenschürze trägt, ist, wie sich bald herausstellt, ein wahres Biest. Sie scheint Verehrer zu schlagen und von sich zu stoßen, bevor es wirklich ernst werden kann, und lässt keine Möglichkeit aus, in der Familie für Unruhe zu sorgen. Mit Lügen, Intrigen, Bösartigkeiten, kleinen und größeren Gemeinheiten und sogar mit Rattengift, das sie dem intendierten Rezipienten dann allerdings doch nicht verabreicht. Auch das große Fleischmesser, das sie bei einem gemeinsamen Besuch mit Albert in einer Tierpension zwar dabei hat, dann aber doch nicht verwendet, ist eine Erinnerung, die der diesen Text erzählende Schriftsteller nicht vergessen kann.

Die Verehrer kommen und gehen, während ihre Eltern mit aller Vehemenz Regeln durchzusetzen versuchen, um das noch minderjährige Biest zu bändigen. Doch das alles funktioniert nicht, der Polizist verlässt sie zum Leidwesen ihrer Eltern, bevor es wirklich ernst wird und zerstört mit seinem Wissen über Tinys Unfruchtbarkeit fast ihre spätere Ehe mit Koos. Koos ist eine wirklich eigenartige Figur, allerdings typisch für das Schaffen Van der Heijdens. Schräg, krankhaft sexsüchtig, begutachtet er beispielsweise eine im Regen gefundene Unterhose, oder beobachtet bewusst aufdringlich Liebespaare im Freien.

Bald hat man als Leser auch verstanden, was Tiny in ihrer Jugend widerfahren sein muss. Ein Ereignis, das sie prägt und in gewisser Weise auch beschädigt. Sie kann sich nur im privaten Rahmen wehren, weil sie es nicht schafft, für das ihr Angetane Schuldeingeständnisse oder Sühne zu erlangen. So wütet und tobt sie, während sie ihre immer älter werdenden und dahinsiechenden Eltern an jedem Wochenende besucht. Keines lässt sie aus, nur um dann dort ein Biest zu sein. Sie versteckt sich hinter ihrer Opferrolle, als Dienstmädchen, Sklavin oder gar Magd, unbesoldet ausgenutzt von ihren Eltern.
"'Wo ist Tientje Putz, wenn man sie mal braucht', rief mein Vater irgendwann aus. Der verzweifelte Bräutigam konnte darüber nicht lachen. Meine Mutter erging sich in Entschuldigungen."

So deckt Van der Heijden Schicht für Schicht in diesem Drama auf. Die ältere Schwester, die ihrer kleinen Schwester im entscheidenden Moment nicht zur Seite steht. Die Eltern, die wohl wissen, was ihrer Tochter angetan wurde, aber unter keinen Umständen bereit sind, denjenigen, der ihr das angetan hat, anzuprangern oder gar zur Rechenschaft zu ziehen. Verschweigen, nicht aussprechen, so tun, als wäre nichts gewesen. Nun will sie Rache üben und tut das auch.

Alberts Faszination bezüglich seiner zwölf Jahre älteren Tante ist nicht nur eine literarische, sondern auch eine erotische. Von Anfang an spürt man, dass die Tante ein Objekt seiner Begierde darstellt, auch wenn das lange nicht direkt angedeutet wird, bis es letztendlich doch zu einem inzestuösen Akt kommt, der allerdings für beide Seiten eine herbe Enttäuschung bedeutet.
"Ich zog sie unter die Decke zurück, schob meinen Arm unter ihren Nacken und presste die Lippen auf ihren Mund. Meine Zunge versank in einem Meer geschmolzener Schokolade, vermischt mit den spitzen Körnern des Zuckergusskükens. Sie protestierte laut summend und machte Anstalten, meine Kehle mit beiden Händen zu würgen, um meinen Kopf zurückzudrücken."

Van der Heijden erzählt die Geschichte der Tante mit erfrischend luftig flockiger Prosa, die so in seinen früheren Romanen eigentlich gar nicht vorkommt, und zeichnet ein großartig berührendes Porträt einer geschundenen und unglücklichen Frau im Umfeld einer bornierten, verklemmten und herzlosen Familie. Virtuos umspannen diese knapp dreihundert Seiten ganze fünfzig Jahre. Beeindruckend und spannend, ein wirklich großartiges Leseerlebnis, kongenial von Helga von Beuningen übersetzt.

(Roland Freisitzer; 10/2016)


A. F. Th. van der Heijden: "Das Biest"
(Originaltitel "De helleveeg")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2016. 302 Seiten.
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