Norbert Gstrein: "In der freien Welt"
Gibt
es eine freie Welt?
Norbert Gstrein ist einer der interessantesten, wenn auch in der
öffentlichen Wahrnehmung viel zu wenig wahrgenommenen Autoren
Österreichs. Seine Werke zeichnen sich durch klare Prosa aus,
die sich jeglicher Effekthascherei verwehrt. Pathos und
Sentimentalität haben in seiner literarischen Welt meist
keinen Platz. Er punktet weder mit narzisstischer Zurschaustellung des
fiktiven oder realen Ichs, noch blutrünstigen Szenen. Auch
nicht mit sprachlicher Demontage, die oft Unfähigkeit als des
Kaisers
neue Kleider verkauft. Eine Wohltat in unserer Zeit, wo oft nur
das zählt und kurz vielleicht wirkungsvoll ist, was den Nerv
der Zeit trifft.
Der österreichische Autor bewegt sich gerne auf einem Terrain,
das eine politisch korrekte Auseinandersetzung nur sehr schwer
oder gar unmöglich macht, wenn man nicht an der
Oberfläche bleiben will. So wie seinen beiden Romanen zum
Balkankrieg, "Die Sommer im Süden" und "Das Handwerk des
Tötens" oder in seinem großen Roman über
die Flucht vor dem Holocaust "Die englischen Jahre".
"In der freien Welt" beschäftigt sich mit dem Nahostkonflikt.
Ein ebenso umfangreiches und vor allem schwer realisierbares Kapitel
unserer Geschichte, ein Konflikt, der sich auch jetzt noch keinem Ende
zuneigt.
Norbert Gstrein lässt seinen Roman von Hugo erzählen,
der gleich zu Beginn erfährt, dass sein alter
Schriftstellerfreund John in San Francisco gestorben ist. Ermordet auf
der Straße, Raubmord war es nicht, weil das Opfer noch 175
Dollar und das Mobiltelefon bei sich hatte. Sind es Drogen? Oder ist
der Mord politisch motiviert? Hugo beginnt, sich zu erinnern. An die
Männerfreundschaft, die vor vielen Jahren begonnen hat, ebenso
in San Francisco, wo Hugo einen Studienaufenthalt an der Stanford
University hatte. Dass sich die Figur von Hugo in etwa mit
der von Norbert Gstrein deckt, ist genauso interessant wie die
Tatsache, dass John offenbar eine fiktive Vereinnahmung des
Widmungsträgers Alan Kaufman ist und auf dessen Buch "Jew
Boy" hier unter einem anderen Namen lose hingewiesen wird,
mit dem wahrlich glücklichen Unterschied, dass Alan wohlauf
ist.
Im ersten Teil legt Norbert Gstrein die Spuren, die er später
weiterverfolgen wird. Dieser Teil ist nicht einfach zu lesen, da
Gstrein die Gedanken Hugos frei kreisen lässt, stocken
lässt und bewusst nicht zum Punkt kommt, um sich für
später alles offenzulassen. Eine frappierende
Ähnlichkeit zu "Die englischen Jahre" ist, dass es auch in
diesem Roman um eine Art Rekonstruktion eines Schriftstellerlebens
geht, das beeinflusst durch Krieg und Vertreibung neue Weg in fremden
Territorien finden muss. Die Vermischung von Fiktion und
Realität findet bei Norbert Gstrein dabei so differenziert und
sensibel statt, dass man sich als Leser vielleicht doch immer wieder
beim Nachschlagen gewisser Fakten ertappt.
Im Mittelpunkt des Romans steht aber das Kennenlernen der beiden, die
Frau zwischen oder mit ihnen, die Jahre danach, Israel, der
Libanon-Krieg, in dem John gekämpft hat, der ihn aber selbst
dreißig Jahre danach noch nicht in Ruhe
lässt. John, der Sohn einer Überlebenden des
Holocausts, ist zwar überzeugter Zionist, hat aber ebenso ein
Problem mit der "jüdischen Opferrolle". Die Erkenntnis, dass
die israelische Armee einen schmutzigen Krieg führen kann,
lässt ihn an seinen Prinzipien zweifeln. John, der in den
Kibbuz geht, sich allerdings später eingestehen muss, dass er
das nur getan hat, um die schönsten Mädchen
kennenzulernen, und nicht wirklich aus einer Art Schuldgefühl
gegenüber Israel.
Da gibt es dann noch die Begegnung mit dem palästinensischen
Schriftsteller Marwan bei einem Literaturfestival in Gmunden, die sich
als perspektivische Begleitung zur literarischen Aufarbeitung des
scheinbar unlösbaren Konflikts zwischen Israel
und
Palästina lesen lässt. Am Ende des
Festivals
überlegen Marwan und John gar, ein gemeinsames Buch zu
schreiben, daraus wird aber nichts. Marwan wird später eine
Erzählung über Johns Tod schreiben, die so
überzeugend ist, dass man fast meint, er müsse
irgendwie in die Sache verwickelt sein.
Norbert Gstrein schreibt hier einen umfangreichen Roman, der im
Hintergrund der Geschichte zweier Freunde ein Thema anreißt,
das so, auf knapp 500 Seiten, wahrscheinlich sowieso nicht
erklärbar ist. Wobei der Rezensent damit nicht behaupten
möchte, dass das ein Anliegen Norbert Gstreins in diesem Roman
gewesen sein könnte. Was hier vielleicht nicht so
überzeugend gelungen ist wie in früheren Romanen
Gstreins, ist die Figurenzeichnung, zumindest nicht so, dass man als
Leser immer ausreichend Interesse an den hier versammelten
Protagonisten hat. Das liegt vielleicht daran, dass der durchgehende
Parlando-Tonfall, also die mäandernden Gedanken und
Erzählungen Hugos, nicht ausreichend dringlich sind. Entfernt
fühlt man sich an einige Romane Philip
Roths erinnert,
allerdings ohne den sarkastisch-ironischen Tonfalls des US-Amerikaners,
der selbst in so spröden Romanen wie "Mein Mann, der
Kommunist" vorhanden ist.
Nichtsdestotrotz, "In der freien Welt" ist ein großer Roman,
spröd, verschlungen, nicht einfach zu lesen, in fast
klassisch-schöner Sprache verfasst, politisch klug und
ambitioniert, den man unbedingt lesen sollte. Bei der
Größe des Themas ist es ein Unding, darüber
zu sinnieren, ob der Autor erfolgreich war oder nicht. Der Autor hat
wie immer sehr viel riskiert und dabei auch überraschend viel
gewonnen. Und das kann man wirklich nicht über viele
Neuerscheinungen sagen.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 04/2016)
Norbert
Gstrein: "In der freien Welt"
Hanser, 2016. 496 Seiten.
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Norbert
Gstrein, am 3. Juni 1961 in Mils in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er
erhielt unter Anderem den "Alfred-Döblin-Preis" und den
"Uwe-Johnson-Preis".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Eine Ahnung vom Anfang"
Auf dem Bahnhof in einer abgelegenen Provinzstadt wird eine Bombe
gefunden. Ein Lehrer glaubt auf einem Fahndungsfoto seinen
Lieblingsschüler Daniel zu erkennen, der sich nach einer
Israel-Reise in religiöse und politische Fantastereien
verrennt. Ist Daniel dem amerikanischen Endzeitprediger verfallen, der
eines Tages in ihrem Ort aufgetaucht war und dann nach Jerusalem ging?
Oder hat ein gemeinsamer Sommer den Jungen auf Abwege geführt,
als der Lehrer und Daniel ganze Tage außerhalb der Zeit
verbrachten? Ein Roman über Heimat und Exil und über
die verhängnisvolle Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit. (dtv) zur
Rezension ...
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"Als ich jung war" zur Rezension ...
"In der Luft. Drei lange Erzählungen"
Norbert Gstrein erzählt von drei Außenseitern: von
der zunehmenden Entfremdung Jakobs im Internat und in einem ganz auf
den Tourismus ausgerichteten Wintersportort in den Alpen,
von dem
Physiker
Auguste Piccard und seinem Höhenflugrekord mit einem
Fesselballon im Jahr 1931 und von einem eigensinnigen Schriftsteller,
der im Gespräch mit einer Ärztin jeden Halt verliert.
Drei Einzelgänger, die sich nicht in der Welt einzurichten
vermögen und gegen die Wirklichkeit anrennen oder sich auf
ihre Weise, und sei es buchstäblich in der Luft, ihre eigene
Wirklichkeit schaffen. Erstmals sind die langen Erzählungen
des aus Österreich stammenden Autors "Einer", "In der Luft"
und "Selbstportrait mit einer Toten" in einem Band versammelt. (dtv)
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