Daniel Goetsch: "Ein Niemand"


Jemand Anderer sein, mit Godot

Einmal jemand Anderer sein. Das ist ein Wunsch, den viele hegen. Tom Kulisch erhält durch Zufall diese Möglichkeit und schlüpft erfolgreich in die Identität eines Mannes, der ihm frappierend ähnlich sieht. Kulisch ist Zeuge eines Autounfalls, bei dem Ion Rebreanu tödlich verunglückt. Die Notärztin sieht die Ähnlichkeit zum Toten und übergibt Tom Kulisch dessen Tasche, in der sich ein rumänischer Pass, eine Fahrkarte nach Prag, ein Satz Kunstpostkarten, die eine gewisse Doina an Rebreanu geschickt hat, und ein Wohnungsschlüssel für eine Wohnung in Prag befinden, mit einer genauen Adressenangabe.

Als das alles passiert, läuft es gerade nicht wirklich gut im Leben Tom Kulischs. Seine Arbeit als technischer Übersetzer ist eine Qual, zudem hat ihn seine Freundin verlassen und aus der Wohnung geworfen. Die nun tatsächlich einsamen Nächte verbringt er mit dubiosen Figuren in verschiedenen Bars am Prenzlauer Berg.

Er nutzt die Chance zur neuen Identität, fährt nach Prag und lässt sich dort nieder. Die Altbauwohnung ist äußerst komfortabel, und die Freunde des Toten bemerken den Schwindel offensichtlich alle nicht. Einzig die Freundin von Ion Rebreanu, Mascha, erkennt den Schwindel, verhält sich aber ruhig, da sie hofft, dass der falsche Ion besser als der richtige ist. Ion Rebreanu war nämlich in dubiose Geschäfte verwickelt und hat Schulden bei verschiedenen Gläubigern, die sich natürlich jetzt alle an Tom Kulisch wenden, der für sie alle Ion ist.

Sehr bald sehnt sich Tom Kulisch nach seiner Berliner Identität zurück. Dass die Rückkehr jetzt nicht so locker vonstatten geht, ist dem Leser längst klar, weil Kulisch viel zu weit in die Vergangenheit Rebreanus hineingezogen worden ist.

Berlin, Prag und schlussendlich Bukarest, das sind die Stationen dieses seltsamen teilweise höchst unterhaltsamen Romans, der sich allerdings nie eindeutig positioniert. Eine Eigenschaft, die der Roman mit seinem hilflos skurrilen Protagonisten teilt.

Ein wenig problematisch ist das Fehlen einer überzeugenden Vorgeschichte Kulischs, denn das, was er sporadisch durchblicken lässt, erscheint nicht weniger dubios als die Vergangenheit Rebreanus. Man kann aus den Fragmenten eine gewisse Vorstellung von Kulischs Leben vor dem Unfall gewinnen, allerdings ist das, was einem vorgesetzt wird, bewusst unzuverlässig. Das führt dazu, dass man bald daran zweifelt, dass Kulischs Freundin, eine leider erfolglose Schriftstellerin, die Selbstmord begangen hat, ihn wirklich aus der Wohnung verstoßen hat. Eigentlich bleiben die Zweifel so stark, dass man auch nie weiß, ob sie nun Selbstmord verübt hat oder gar noch gesund und munter lebt, nachdem Tom Kulisch verschwunden ist. Hat er die Tote tatsächlich gefunden und flieht seither in einer Art psychotischen Wahns? Oder ist alles Psychose und der Selbstmord, ja vielleicht sogar die vermeintlich suizidale Freundin selbst, ebenso Erfindung?

Letztendlich treibt es Kulisch als Ion Rebreanu nach Bukarest, wo er am Krankenbett einer alten sterbenden Frau wacht und auf die Schreiberin der Kunstpostkarten Doina wartet, die sich zwar immer aufs Neue ankündigt, aber nie auftaucht.

Als es ihm reicht, reist er wieder nach Deutschland, wo er am Flughafen Berlin Tegel vom Grenzschutz aufgehalten wird, weil sein Reisepass, also in Wahrheit der von Ion Rebreanu, abgelaufen und ungültig ist. Der zu Hilfe gerufene polizeiliche Ermittler versucht herauszufinden, was es mit dem rumänischen Bürger auf sich hat, der perfekt Deutsch spricht und behauptet, Tom Kulisch zu sein, obwohl er aus Bukarest einreist, die Person auf dem Foto im abgelaufenen Reisepass ist und Angaben macht, die zutiefst verwirrend sind.

Das ist der Anfang des Romans, und hier sollte man genau aufpassen, weil der Schlüssel zum Verständnis in diesem Prolog versteckt ist.

Daniel Goetsch schafft es, den Leser fast durchwegs zu fesseln und den psychotischen Schwebezustand hervorragend zu zeichnen. Immer wieder ist man gezwungen, einen Abschnitt oder auch Kapitel noch einmal zu lesen, weil man meint, irgendetwas missverstanden zu haben. Das ist spannend, manchmal aber auch ermüdend. Die Pointe, auf die der Rezensent hier nicht weiter eingehen wird, fegt dann jegliche Vorbehalte vom Tisch. Man darf allerdings nicht beleidigt sein, wenn man merkt, dass man Daniel Goetsch ordentlich auf dem Leim gegangen ist.

Fazit:
"Ein Niemand" ist eine skurrile Lektüre mit einer Prise Kafka und Godot, sehr empfehlenswert.

(Roland Freisitzer; 05/2016)


Daniel Goetsch: "Ein Niemand"
Klett-Cotta, 2016. 222 Seiten.
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Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter "Herz aus Sand" und "Ben Kader", sowie Dramen und Hörspiele. Für "Ein Niemand" erhielt er das "HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren".