Erwin Seitz: "Kunst der Gastlichkeit"

22 Anregungen aus der deutschen Geschichte und Gegenwart


Wenn Fremde zu Vertrauten werden - Gastlichkeit in Reinkultur

Wenn Fremde zu Vertrauten werden, so lautet für Erwin Seitz, Journalist, Gastronomiekritiker und Kulturhistoriker, die Quintessenz von Gastlichkeit. Ein Prozess der Verwandlung, ausgelöst durch Raum und Einrichtung, Service und Gespräch, Speisen und Getränke, die einem Gast mit Freundlichkeit und Respekt geboten werden. Es ist ein Prozess, der, seit es Menschen gibt, gepflegt wird, quer durch alle Zeiten und Kulturen. Dementsprechend weit holt Seitz in seinem Buch "Kunst der Gastlichkeit" aus. Von den Steinzeitmenschen bis ins Deutschland des 21. Jahrhunderts folgt er dem soziokulturellen Phänomen der Gastlichkeit.

Die historische Zeitreise beginnt bei den Anfängen der Menschheitsgeschichte, der Entstehung von Landwirtschaft und der damit einhergehenden Entfaltung der Ernährung. Die Feuerstelle in handwerklicher wie sozialer Hinsicht als Keimzelle menschlicher Kultur. Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, überall entwickelten sich die gleichen Kernsätze der Gastlichkeit, die bis heute Bestand haben - Achtsamkeit, Rücksicht, ein nettes Gespräch führen, dem Anderen eine Freude sein - und erweisen sich als immanenter Teil des Entstehungsprozesses der Zivilisation. Schon Homers "Odyssee" tritt hier als Grundbuch der Gastlichkeit auf. In Mittel- und Westeuropa waren es die Kelten, die, wie es Seitz formuliert, den Homo civilis ausprägten, während die Germanen eher noch den Homo naturalis kultivierten. Aber sie lernten und versuchten, die keltischen Formen der Gastlichkeit und sozialen Ordnung nachzuahmen. Ob es gar schon, wie der Autor meint, eine deutsche Gemütlichkeit bei den Germanen gab, mit ihrer Vorliebe für Bratwurst und Bier, sei dahingestellt.

Mit dem Vordringen der Römer wurden wiederum neue Kulturtechniken und Gebräuche mitgebracht. Was für den Autor ein guter Anlass ist, Kulinarik und Geselligkeit bei den Römern zu beleuchten. In der römischen Spätantike geriet die Kunst der Gastlichkeit auch in der germanischen Provinz zu einem Höhepunkt, wie er für lange Zeit nicht mehr erreicht werden sollte. Gastgeber und Gäste genossen "Geselligkeit, Schönheitspflege, Essen und Trinken, Musik und Dichtkunst, Flirt und Tändelei".

Nächste Station ist die Kultur der frühmittelalterlichen Klöster, die Gastfreundschaft zu ihren Geboten zählten. "Voll dienstbereiter Liebe" sei den Fremden bzw. Gästen entgegenzueilen, mit offenem Herzen und Respekt. Am mittelalterlichen Hofe Karls des Großen wurde hingegen die Pracht des Staatsbanketts zelebriert. Dann ein Sprung fast in die Gegenwart, als Preußen die Macht in Deutschland an sich zog. Frömmelnd, rational und militaristisch, wurde auf Genuss und Gastlichkeit bei Hofe kein Wert gelegt. Selbst der Bankettsaal ist schmucklos und kann weder Sinnlichkeit noch Lebensfreude ausstrahlen, wie der Autor tadelnd bemerkt. Aber zurück ins Mittelalter. Gewissenhaft geht der Autor allen Spuren freudvoller Genussfähigkeit nach, spürt den verfeinerten Sitten der Oberschicht im mittelalterlichen Köln nach. Freigebigkeit und Hochherzigkeit waren die Tugenden, die bei den höfischen und großbürgerlichen Festen im hohen Mittelalter gezeigt wurden. Mit einem feierlichen Festmahl, mit Musik und Tanz wurden die Gäste erfreut. Legendär wurde das Hoffest in Mainz im Jahre 1184, zu dem Kaiser Friedrich Barbarossa eingeladen hatte und von dem nur bekannt ist, dass "viele tausend Mark verzehrt und verschenkt" wurden. Im Mittelpunkt standen Reichhaltigkeit und Überfluss der Speisen und Getränke sowie die Anwesenheit berühmter Gäste. Daneben traten aber auch schon bürgerliche Kräfte auf, reiche Kaufleute, die imstande waren, Gäste fürstlich zu bewirten. Für die Entwicklung einer bürgerlichen Esskultur ist Goethes Lebensstil im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert maßgebend. Der Autor widmet daher viel Raum dem Goetheschen Haus am Frauenplan in Weimar, das weithin bekannt war für seine Gastfreundschaft. Berühmt die Gastgeberqualitäten von Goethe, der, so erfährt man, auch ein Meister des Tischgesprächs war. Gäste erinnerten sich, neben gutem Essen und sehr guten Weinen "ein paar Stunden frei und heiter" verlebt zu haben. Je weiter der Autor sich aber der Gegenwart annähert, desto dünner wird der kulturhistorische Aspekt seiner Überlegungen. Stattdessen punktuelle Betrachtungen zu Bier und Wein und über die immerwährende Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, wo immer der auch liegen mag.

Seitz unterbricht immer wieder seine historische Chronologie mit Gedanken zur gegenwärtigen Kultur. Einmal, indem er sich mit Wellness-Hotels und gehobenen Landhotels beschäftigt, die durch die Verbindung von Wohnen, Kulinarik, Wohlbefinden, Kunst und Natur punkten, ein andermal, um Plädoyers für den sinnlichen Genuss zu halten. Nach dem Motto: "Nur wer unvergesslichen himmlischen Momenten eine Chance gibt, lebt erfüllt." So sympathisch sein Bekenntnis zum Genuss ist, so störend sind sein erhobener Zeigefinger und seine Angewohnheit, seine historischen Recherchen mit eigenen detaillierten Ratschlägen für die Gegenwart zu spicken. So etwa der Rat, das Esszimmer mit Blumenbildern zu schmücken, als Anregung für ein frohes Tischgespräch. An anderer Stelle, im Anschluss an die Schilderung von Goethes Kunst der Gastlichkeit, die Anleitung zu einem perfekt gedeckten Tisch, mit weißem Damast, weißem Porzellan und Silberbesteck. Als ob die Vorlieben von Erwin Seitz allgemeine Gültigkeit hätten. Die anschauliche Darstellung der Vielfalt von Gastlichkeit in ihrer kulturhistorischen Entwicklung und Veränderung wäre wohl ausreichend und Anregung genug.
In diesem Sinne sind die "22 Anregungen", wie es im Buchtitel heißt, durchaus anregend.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 01/2016)


Erwin Seitz: "Kunst der Gastlichkeit.
22 Anregungen aus der deutschen Geschichte und Gegenwart"

Insel, 2015. 250 Seiten.
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