Helen Garner: "Drei Söhne"

Ein Mordprozess


Vorsätzlicher Mord oder tragischer Unfall?

Am 4. September 2005, gegen 19 Uhr, ist Robert Farquharson dabei, seine drei Söhne Jai (10), Tyler (7) und Bailey nach einem gemeinsam verbrachten Vatertag zurück zu ihrer Mutter Cindy Gambino zu chauffieren, als das Auto plötzlich zwischen Winchelsea und Geelong vom Princes Highway abfährt und in einem Baggersee verschwindet. Der Vater rettet sich aus dem Auto, die drei Söhne ertrinken.

Die 1942 geborene australische Schriftstellerin Helen Garner ("Das Zimmer", "Das Haus an der Bunker Street", "Die Kinder anderer Leute"), selbst in Geelong geboren, sieht den ersten Bericht über diese Tragödie bereits am Abend des 4. September. Ein Bericht und ein Fall, der sie nicht mehr loslassen sollte. "Ich sah es in den Fernsehnachrichten. Nacht. Gebüsch. Wasser, schwarz und neblig. Verschwommene Lichter, ein Hubschrauber. Männer mit Warnwesten und Schutzhelmen. Hier war etwas Schlimmes passiert. Etwas Fürchterliches."

Robert Farquharson gibt an, einen Hustenanfall mit Bewusstseinsverlust gehabt zu haben, der ihn die Kontrolle über das Auto verlieren hat lassen. Eine sogenannte Hustensynkope, die allerdings nur sehr selten auftritt und fast nur durch Indizien belegt ist. Aufgrund des kalten Wassers wieder zu Bewusstsein gekommen, rettet er sich aus dem Auto, schwimmt zum Ufer und läuft, während das Auto im Baggersee versinkt, zurück auf die Straße, wo er ein Auto aufhält und die beiden Insassen dazu überredet, ihn zu seiner Exfrau Cindy Gambino zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt hat er keine Rettungsmaßnahmen eingeleitet. Bei seiner Exfrau angekommen, erzählt er ihr, was passiert ist. Sie ruft Rettung, Polizei und Feuerwehr, bevor alle gemeinsam zurück zur Unfallstelle fahren. So vergeht wertvolle Zeit, die vielleicht genutzt werden hätte können, die drei Buben zu retten. Am Unfallort und im Krankenhaus, wo Farquharson danach untersucht wird, während die Rettungsmannschaften das Auto und die längst toten Kinder aus dem Teich bergen, wecken Farquharsons Aussagen Zweifel. So starke Zweifel, dass die Untersuchungen bald auf eine Anklage wegen vorsätzlichen Mordes hinauslaufen.

Die Autorin beschäftigt sich weiter mit dem Fall, soweit, dass sie auch den Prozess während der ganzen Zeit verfolgt, mit Verwandten und Zeugen spricht. Sie möchte, ebenso wie alle Beteiligten, wissen, ob das, was hier passiert ist, ein tragischer Unfall, oder, wie die Anklage behauptet, vorsätzlicher Mord aus Rache gewesen sein kann.
Rache dafür, dass Cindy Gambino Robert Farquharson verlassen, einen neuen Freund und sich das neue, teure Auto behalten hat. Einem Freund gegenüber soll er erwähnt haben, Cindy das wegnehmen zu wollen, was ihr am meisten bedeutet. Die Kinder. Er soll seinem Freund gegenüber sogar eine hypothetische Variante dieser Idee, die sich rückblickend mit dem wirklichen Unfall fast zur Gänze deckt, nur wenige Wochen vor der Tragödie erwähnt haben.

Andererseits kann und will niemand glauben, dass Robert Farquharson, den alle als liebenden Vater kennen wollen, eine solche Tat begangen haben könnte.
"Was ist schlimmer? - Mit dem Verdacht und den verschiedenen ungeklärten Möglichkeiten zu leben und nie zu wissen, was wirklich wahr ist, oder mit einer Wahrheit zu leben, die zu entsetzlich ist, als dass man sie überhaupt begreifen könnte?"

Helen Garner arbeitet die Persönlichkeiten der Beteiligten minutiös heraus, zeichnet differenzierte Porträts, nimmt die Aussagen und Berichte, um detailliert zu hinterfragen, ob es wirklich ein perfider Racheakt an Cindy Gambino hätte sein können. Zusätzlich begleitet sie den Prozess, beschreibt ihre Wahrnehmung der Zeugenaussagen, der Indizienbeweise, der Gutachten, der Anwälte, des Staatsanwaltes, der Geschworenen und der Zeugen. Auch die Atmosphäre im Gerichtssaal wird dem Leser lebendig nähergebracht. "Drei Söhne. Ein Mordprozess" ist ein umfassender, hochliterarischer Bericht über einen Fall, der zwar mit einem Urteil beendet wurde, allerdings als reiner Indizienprozess letztendlich nie endgültige Beweise über die Schuld von Robert Farquharson ans Licht gebracht hat. Einige Jahre später wird der Prozess neu aufgerollt, weil die Anwälte beweisen konnten, dass der Richter im ersten Prozess mit seinen Schlussworten möglicherweise die Geschworenen beeinflusst hatte. Der neue Prozess endet allerdings ebenfalls mit Schuldsprüchen und drei lebenslänglichen Haftstrafen, allerdings wird Robert Farquarhson nun (im Gegensatz zum ersten Prozess, der im Urteil keine Möglichkeit auf Straferlass gewährt hatte) die Möglichkeit auf einen Straferlass nach dreiunddreißig Jahren gewährt. Ein Appell an den Obersten Gerichtshof in Australien wird nicht zugelassen.
"... Jahre später sagte ein Bekannter, der an diesem Tag oben auf der Galerie gesessen hatte, mit einem Seufzer zu mir: 'Es war, als würde man ein armes Tier verenden sehen. Man wollte nur noch rufen: Um Himmels Willen, erschießt ihn doch einfach.'"

Helen Garners großer Verdienst in diesem Buch ist es, nicht nur die Tatsachen übersichtlich und detailliert dem Leser zugänglich gemacht, sondern auch, und das sogar vor allem, eine wirklich beeindruckende Sozial- oder Milieustudie geschaffen zu haben. Ein Buch, das einen tiefen Einblick in die Hintergründe möglich macht und definitiv auch als literarisches Werk gelesen werden kann. Jene Frage, die immer zwischen den Zeilen durchschimmert, nämlich, ob es wirklich möglich sein kann, dass ein Vater seine drei Söhne tötet, um seiner Exfrau besonders weh zu tun, zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Text.
"Falls irgendein Zweifel besteht, dass Farquharson absichtlich in den Baggersee gefahren ist, dann ist er nicht gewichtiger als ein Zigarettenpapierchen, das im Wind flattert, nicht plausibler als das nicht gehörte Gebet, das mir durch den Kopf schoss, als ich zum ersten Mal ein Foto von dem Auto sah, wie es gerade aus dem schwarzen Wasser gezogen wurde."

Eindringliche Szenen, die man nicht so schnell vergessen wird, gibt es alle paar Seiten in diesem Buch, wie beispielsweise das Schlussplädoyer im zweiten Prozess und Garners Beschreibung der Reaktion der Geschworenen. Das geht erfreulicherweise weit über eine sachliche Zusammenfassung eines unfassbaren Falls hinaus. In solchen Momenten offenbaren sich die schriftstellerischen Fähigkeiten der australischen Autorin viel stärker als in den bewusst trocken gehaltenen Überlieferungen der Kreuzverhöre und den Wiedergaben der verschiedenen Gutachten. Die perfekt aufeinander abgestimmten Wechsel zeigen auch die dramatische Pranke der Autorin. Dank all dieser Komponenten hat der Leser immer wieder das Gefühl, einen Roman zu lesen. Der Rezensent hat während der Lektüre des Öfteren ungläubig "Google" zu Rat gezogen, um sicher zu sein, dass gewisse geschilderte Vorfälle eben wirkliche Tatsachen sind.

Die Übersetzung von Lina Falkner ist an sich gut, verirrt sich jedoch das eine oder andere Mal in Ungenauigkeiten und Fehlern. Um ein Beispiel anzuführen: In dem Moment, als Farquharson nach dem Unfall auf die Straße läuft und den Insassen des Autos vom Vorfall erzählt, lautet die Übersetzung: "Ich habe meine Söhne umgebracht ...". Eine Aussage, die, gerade in einem Kriminalfall, doch sehr eindeutig auf Vorsatz hindeutet. Dadurch stutzig geworden, hat sich der Rezensent die Originalausgabe zum Vergleich besorgt, und dort steht an ebendieser Stelle: "I just killed my kids." Was bedeutet, dass in der deutschen Übersetzung eigentlich "getötet" statt "umgebracht" stehen müsste und somit mehr Spielraum zwischen Vorsatz und verschuldetem Unfall ließe. Bei der weiteren Parallellektüre fielen dann noch einige allerdings eher unwichtige Ungenauigkeiten auf, die nicht mit literarischer Übersetzung begründet werden können, jedoch eigentlich nicht ins Gewicht fallen.

"Drei Söhne" ist jedenfalls ein blendendes Beispiel der von Truman Capote mit seinem kongenialen "Kaltblütig" erfundenen Gattung des sogenannten Tatsachenromans. Die beiden Bücher ähneln einander allerdings nur bedingt, was nicht nur, aber doch, auch daran liegt, dass der Kriminalfall Capotes 1959 stattgefunden hat, in einer Zeit vor dem Internet und "Google". Jener Fall, der Capote nicht losgelassen hat, ein brutaler Mord an einer Familie in den USA, Täter und Opfer sind nicht miteinander bekannt und nur zufällig Ziel dieses Gewaltexzesses.
Helen Garner geht ihrem Fall, in dem Opfer und Täter doch das engste Naheverhältnis aufweisen, das Menschen verbinden kann, viel weniger spektakulär, allerdings sicher nicht weniger eindringlich nach und liefert somit ein großartiges, aufwühlendes Leseerlebnis.

(Roland Freisitzer; 09/2016)


Helen Garner: "Drei Söhne. Ein Mordprozess"
(Originaltitel "This House of Grief")
Übersetzt von Lina Falkner.
Berlin Verlag, 2016. 351 Seiten.
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