Peter-André Alt: "Sigmund Freud"

Der Arzt der Moderne. Eine Biografie


Sehr detailliertes und umfangreiches Opus über Familie Freud und besonders den ältesten Sohn, Sigmund

Die Freud-Biografie ist in 18 Kapitel mit Unterkapiteln gegliedert. Bezeichnungen und Jahreszahlen grenzen die Kapitel ein und verschaffen dadurch eine klare Struktur und zeitliche sowie inhaltliche Orientierung für den Leser. Im Folgenden werden einige ausgewählte Kapitel inhaltlich näher beschrieben, um einen Einblick in den Charakter des Buches zu geben.

Im Melderegister ist der 6. März 1856 als Geburtstag des Sigismund Schlomo Freud notiert. Dabei dürfte es sich jedoch um einen Fehler handeln, denn Freuds Vater hat in seiner hebräischen Bibel den 6. Mai als Geburtstag notiert. Anhand dieses Berichts wird gleich auf den ersten Seiten deutlich, dass es sich um eine außergewöhnlich gut recherchierte und detaillierte Biografie handelt. Heirat und Herkunft der Eltern, die Glaubenserziehung Sigmunds durch den Vater und erste Thematisierungen des ödipalen Konflikts sind weitere Eckpfeiler dieses Kapitels.
"Denn die eigene Identität, so erkannte er, beruhte auf einem Gegenentwurf, in dem sich Eifersucht und Haß auf das männliche Familienoberhaupt zu gleichen Teilen mischten."

Auch die sexuelle Erregung beim Anblick der Mutter und das sehr intime Verhältnis zu seinen Schwestern werden aus Freuds Briefen zitiert. Der Umzug nach Wien und die aufkommende antisemitische Gesinnung sind außerdem für die jüdische Familie Freud spürbar und werden von Alt thematisiert.
"Seinem zehnjährigen Sohn erzählt er (Jakob Freud, Anm. d. Rezensentin) später, wie man ihn auf die Straße gestoßen und ihm die Pelzmütze vom Kopf geschlagen hatte. 'Jud, herunter vom Trottoir!' rief der Angreifer dabei. Als Sigmund seinen Vater fragte, wie er sich gewehrt habe, antwortete der, daß es ihm nicht eingefallen sei, Widerstand zu leisten. (...) Den Sohn erfüllte dieses Beispiel bereitwilliger Unterwerfung mit Enttäuschung und Wut; (...)."

Die vermutlich kriminellen Machenschaften seines Vaters ließen Sigmund aus Sorge um den Vater ergrauen. Die politische Situation des Liberalismus sowie gesellschaftliche Umstände haben schon den jungen Freud beschäftigt. Das Interesse an politischen Systemen, dem Menschen und den Interaktionen in der Gesellschaft hat sich ein Leben lang gehalten. Faszination empfand Sigmund Freud auch für Naturkunde, Darwins Lehre, die Evolution und Artenlehre sowie den Materialismus. Schon früh war der Weg aufgrund seiner Interessen vorgezeichnet. Anders als viele, durfte Freud sein Studium selbst und ohne Vorgaben des Vaters wählen.
Bereits während seiner Ausbildung wird er zum Forscher. Seine medizinische Abschlussprüfung macht er relativ spät und nach einem Freiwilligen Jahr. Seine Promotion feiert Freud am 31.3.1881. Nicht nur die sexuellen Gewohnheiten von Menschen, seine eigene Selbstbefriedigung, Zoologie und besonders die Fortpflanzungsorgane der Aale beschäftigen Sigmund in seiner Studentenzeit. Auch über Weltanschauungen eines Naturforschers und Empirikers tauscht er sich mit Zeitgenossen aus. Klimt und Mann gilt Freuds Interesse ebenfalls.

"Breuer sah Freuds außerordentliche Fähigkeiten sehr schnell und ignorierte daher, was sie an Alter, Erfahrung und Status trennte. Er suchte den Austausch mit dem Jüngeren, dessen breite kulturelle Bildung er schätzte, und lud ihn regelmäßig nach seinem anstrengenden Praxistag in die Bäckergasse ein. Freud wiederum bewunderte den etablierten Kollegen mit akademischer Reputation, genoß sein perfekt organisiertes Familienleben und spielte liebevoll mit seinen kleinen Kindern."

Während Freuds Erwachsenenleben und seine berühmte Theorie der sexuellen Triebe weitbekannt sind, offenbart Peter-André Alts ausführliche Biografie Einblicke in sein Privatleben, mehr noch, in seine innersten Gedanken, Ängste, Befürchtungen und Faszinationen. Auch wenn die Bedeutsamkeit des Arztes für die Wissenschaft unbestritten ist, sind es doch die äußeren Umstände, über die man bisher wenig gehört hat. Nicht die Ergebnisse, sondern den Weg dorthin, und die andere, intime Seite dieser Persönlichkeit werden in diesem Buch vorgestellt.
So ist die Lektüre des mehr als 1000 Seiten starken Buches auch ein Prozess und der Weg das Ziel.

Dem Leser wird ermöglicht, die Errungenschaften des Sigmund Freud (wenn heute auch schon zum Teil widerlegt) nachzuvollziehen, indem man Einblick in seine Gedankengänge bekommt. Man erfährt, welche Ansichten und Überlegungen den Forscher zu seinen Theorien veranlasst haben. Auch die persönliche Biografie, die zweifelsohne in seine Überzeugungen, zum Beispiel bezüglich des Ödipus-Konflikts, hineinspielte, wird dargeboten. Das stellt einen ungemein bedeutenden Teil des Ganzen dar, ohne den man Freud eigentlich nicht verstehen kann.
Man kann diesen großartigen Kopf nicht zu schätzen wissen, wenn man seine Beweggründe und Lebensumstände nicht kennt. Ohne diese Komponente fehlt ein ganz bedeutsamer Teil. Mit Alts Biografie über Freud haben Sie die Möglichkeit, sich die Inhalte dieser Komponente anzueignen. Sehr empfehlenswert!

(Alexandra Gölly; 11/2016)


Peter-André Alt: "Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2016. 1036 Seiten, mit 42 Abbildungen.
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Noch ein Buchtipp:

J. M. Coetzee, Arabella Kurtz: "Eine gute Geschichte. Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie"

"Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, mögen nicht wahr sein, aber sie sind alles, was wir haben."
Wir alle erzählen Geschichten - Schriftsteller alleine für sich, wir für andere, gemeinsam mit einem Therapeuten, um das Rätsel unserer Biografie zu lösen. Wir sind von Geschichten umstellt und spinnen sie in einem fort. Doch steckt überhaupt eine Wahrheit hinter den Varianten, Versuchen, Projektionen?
J. M. Coetzee geht in seinem Austausch und Briefwechsel mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz diesen Fragen nach. Ausgehend von seiner eigenen Arbeit, mit Exkursen zu Dostojewskij und Cervantes sowie Rückgriffen auf das eigene Leben, diskutieren sie Antworten in dem von Sigmund Freud und Melanie Klein abgesteckten Feld. (S. Fischer)
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