Péter Esterházy: "Die Markus-Version"

Einfache Geschichte Komma hundert Seiten


Apokryphe Familiengeschichten: Ein mindestens zweidrittelgültiger Miniaturroman

"Das ist der Beginn. Beten konnte ich früher als sprechen. Doch insgeheim konnte ich beides. Ich würde nicht sagen, dass ich schon im Bauch meiner Mutter gebetet habe, und ebenso wenig, dass ich sofort, von dem Moment an, als ich blutglitschig zwischen ihren dünnen, bebenden Schenkeln hindurch hierher, auf die Welt, kam, gebetet hätte. Geschwollen ausgedrückt könnte ich sagen, dass dieses zwischen den Beinen einsetzende Brabbeln das schönste, das eigentliche Gebet wäre, doch besser sage ich es nicht. Als man uns infolge der sogenannten 'Aussiedlung' aus Budapest in ein nordungarisches Dorf abschob, wurden wir bei einem der wohlhabendsten Großbauern im Dorf, bei einem Kulaken, zwangseinquartiert. Uns war die Einstufung 'Volksfeind' zuteilgeworden, und damit hatten wir mühelos die in Frage kommenden Konkurrenten, Offiziere, Fabrikanten, allerlei unterdrückerische Bourgeois, überholt. Lange Zeit wäre ich gern ein Bourgeois gewesen, das ist ein so geheimnisvolles Wort." (Anfang des Romans)

 

Der Mensch in Gottes Hand(eln)
Allzu einfach wird es für geneigte Leser kaum jemals, hat der ungarische Schreibkünstler Péter Esterházy ein weiteres Werk vollendet. Der gebildete, belesene, sprachverliebte Autor ist bekannt für seine mehr als doppelbödigen Ausschweifungen, seine assoziativen Ansätze und seine anspruchsvollen Anspielungen. "Die Markus-Version" erschafft auf lediglich knapp mehr als einhundert Seiten eine jener üppig ausstaffierten Erzählwelten, für die man den Autor meistens schätzt, manchmal wohlwollend ein bisschen tadeln möchte, wenn nämlich bisweilen die Fabulierlust allzusehr mit ihm durchzugehen scheint und die Spielereien überhandzunehmen drohen. Esterházys häufig kurios mäandernde Texte erfordern höchste Konzentration, denn der ebenso vielseitige wie schlaue Autor weiß auch noch im kleinsten Detail mit Verblüffendem aufzuwarten. Diesmal überrascht der Autor also mit einem schmalen Band, bestehend aus einhundert kühnen Kurz- und Kürzestkapiteln, wobei es drei Kapitel mit der Bezeichnung "100" gibt, sowie 13 Seiten mit Anmerkungen und Quellenangaben, die wohl einmal mehr augenzwinkernd auf die Plagiatsvorwürfe aus dem Jahr 2010 anspielen, denn Péter Esterházy liebt es bekanntlich, seine Werke mit fremden Textbausteinen und Zitaten anzureichern.

Die vorige "Einfache Geschichte" entpuppt sich als so einfach nicht, schon die Form verlangt dem Leser einiges an Durchhaltevermögen ab; beispielsweise liefern sich darin Text und Fußnoten nicht selten liebevolle, raumgreifende Dialoge und Scharmützel.
Doch in "Die Markus-Version", dem zweiten Band einer angeblich auf drei Bücher angelegten Reihe, schreibt Péter Esterházy überwiegend aus der Perspektive eines Knaben, der sich von frühester Kindheit an lange Zeit taubstumm stellt (sein erstes laut ausgesprochenes Wort ist übrigens bezeichnenderweise gegenüber seinem Halbbruder "Todsicher." S. 56) und mit verfeinerter Wahrnehmung den Alltag seiner Familie in angespannten Zeiten wiedergibt.
Péter Esterhazys Protagonist benötigt keine enervierende "Blechtrommel", sondern improvisiert gewissermaßen auf seiner "inneren Gotttrommel", auf welcher der Bub beharrlich die großen Daseinsfragen anklingen lässt, könnte man sagen. Dass es aber auch dieser Wicht, der eines Tages quasi aus dem Nichts mit einem fürchterlichen Gewaltakt in die Sündenwelt der Erwachsenen eintritt, faustdick hinter den stets gespitzten Ohren hat, überrascht vielleicht doch ein wenig. Allenfalls könnte der Leser bei guter Gelegenheit selbst das Tatmotiv ergründen und ein Psychogramm des Knaben erstellen ...

Die Macht der Geschichten, die Schichten der Geschichten: Ereignisse parallel zur Jesusgeschichte erzählt

Vordergründig geht es um das kindlich inbrünstige Beten immer und überall, um die innere Rede mit Gott, um die ganz eigene Weltsicht und um das Erforschen der Zusammenhänge in einer von Verhaftungen, Ermordungen, Selbstmorden und Elternzwisten geprägten Kindheit. Die Atmosphäre ist aufgrund der alles überschattenden Angst der Erwachsenen verdüstert. Im Hintergrund liefert durchgehend das Leben des Erlösers das Bühnenbild, wobei die Ebenen einander - natürlich, schließlich ist Péter Esterhazy der Regisseur - durchdringen. Leidensgeschichten, wohin das Auge schaut.

Der Vater des Icherzählers, ein trinkfreudiger, eher schweigsamer Herr Doktor, seine kühle, meistens schlecht gelaunte Mutter, in zweiter Ehe verheiratet, sein älterer Halbbruder aus der ersten Ehe der Mutter (dessen Vater, die große Liebe der Mutter, ist in den Wirren der damaligen Zeit gewaltsam ums Leben gekommen), die bis zu ihrer schweren Erkrankung stets über Gott sprechende und über Jesus erzählende Großmutter - sie alle sind als "Volksfeinde" (ebenso wie die Familie Péter Esterházys , diese wurde unter kommunistischer Herrschaft enteignet und deportiert) aus Budapest weggebracht und bei einem Kulaken und dessen Frau in einem nordungarischen Dorf einquartiert worden und stehen unter Polizeibeobachtung.

Wie Péter Esterházy die äußerst schwierigen Lebensumstände aus zumeist, doch nicht durchgängig, man kennt ja des Autors Stil, kindlich-aufgeweckter Perspektive schildert, erinnert gelegentlich an Passagen in Romanen Mircea Cărtărescus, die aus dem Blickwinkel eines kränklichen hochfantasievollen Kindes vom Alltag in Ceauşescus Rumänien berichten.

Die Brüder besitzen eine "Geheime Schatzkammer" voller toller Fundstücke, sie verbringen viel Zeit miteinander, der ältere Bruder schreibt unentwegt mit seinem Bleistift Geschichten in ein Heft, die Familie ist in einem einzigen Zimmer untergebracht, weshalb die Kinder alles hautnah mitbekommen, was sich zwischen den Eltern abspielt (nächtliche Auseinandersetzungen, Geschlechtsverkehr); es gibt kaum Privatsphäre. Über dem Bett des Icherzählers hängt ein strahlendes Bild des Jesuskinds, an anderer Stelle ein furchteinflößendes Kruzifix.
Es kommt zu erotisch angehauchten Begegnungen zwischen der wohlgenährten Nachbarin Mári und der Mutter des Knaben sowie dem Knaben selbst, er wird zu einem heimlichen Treffen mit der anderen Schwiegermutter mitgenommen, in einer traumatischen Szene findet er die Großmutter im Gemüsegarten liegend, danach ist sie halbseitig gelähmt und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nach einer völligen Wesenswende beziehungsweise einem erschütternden Ausbruch des bislang Unterdrückten übernimmt der Icherzähler die Schreiberrolle seines Halbbruders, und man erfährt noch einige Details aus den weiteren Lebenswegen der Familienmitglieder nach der Zeit des Schreckens.

Beeindruckend ist vor allem die grandiose Verdichtung, die Art, wie der Autor die einprägsame Atmosphäre auf kaum mehr als einhundert Seiten eingefangen hat, wobei das letzte Romandrittel den Eindruck erweckt, der Autor habe zunehmend sowohl Freude als auch Interesse an Hauptfigur sowie Szenerie verloren.
Das Ende kommt auch wirklich erst im dritten Anlauf, vielleicht auch dies von biblischer Tragweite, wer weiß?
Lesenswert ist "Die Markus-Version" in der feinen Übersetzung von Heike Flemming fraglos, stehen doch die Sprache an sich und ihr Gebrauch bei Péter Esterházy stets im Mittelpunkt.

(kre; 03/2016)


Péter Esterházy: "Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten"
(Originaltitel "Egyszerű történet vessző száz oldal - a Márk-változat")
Übersetzt von Heike Flemming.
Hanser Berlin, 2016. 112 Seiten.
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Péter Esterházy wurde am 14. April 1950 geboren, er starb am 14. Juli 2016 im Alter von 66 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

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