Péter Esterházy: "Die Markus-Version"
Einfache Geschichte Komma hundert Seiten
Apokryphe Familiengeschichten: Ein mindestens zweidrittelgültiger Miniaturroman
"Das ist der Beginn. Beten konnte ich früher als sprechen. Doch insgeheim konnte ich beides. Ich würde nicht sagen, dass ich schon im Bauch meiner Mutter gebetet habe, und ebenso wenig, dass ich sofort, von dem Moment an, als ich blutglitschig zwischen ihren dünnen, bebenden Schenkeln hindurch hierher, auf die Welt, kam, gebetet hätte. Geschwollen ausgedrückt könnte ich sagen, dass dieses zwischen den Beinen einsetzende Brabbeln das schönste, das eigentliche Gebet wäre, doch besser sage ich es nicht. Als man uns infolge der sogenannten 'Aussiedlung' aus Budapest in ein nordungarisches Dorf abschob, wurden wir bei einem der wohlhabendsten Großbauern im Dorf, bei einem Kulaken, zwangseinquartiert. Uns war die Einstufung 'Volksfeind' zuteilgeworden, und damit hatten wir mühelos die in Frage kommenden Konkurrenten, Offiziere, Fabrikanten, allerlei unterdrückerische Bourgeois, überholt. Lange Zeit wäre ich gern ein Bourgeois gewesen, das ist ein so geheimnisvolles Wort." (Anfang des Romans) |
Der Mensch in
Gottes Hand(eln) |
Die
vorige "Einfache Geschichte" entpuppt sich als so einfach
nicht, schon die Form verlangt dem Leser einiges an
Durchhaltevermögen ab; beispielsweise liefern sich darin Text
und Fußnoten nicht selten liebevolle, raumgreifende Dialoge
und Scharmützel.
Doch in "Die Markus-Version", dem zweiten Band einer angeblich auf drei
Bücher angelegten Reihe, schreibt Péter
Esterházy überwiegend aus der Perspektive eines
Knaben, der sich von frühester Kindheit an lange Zeit
taubstumm stellt (sein erstes laut ausgesprochenes Wort ist
übrigens bezeichnenderweise gegenüber seinem
Halbbruder
"Todsicher." S. 56) und mit verfeinerter Wahrnehmung
den Alltag seiner Familie in angespannten Zeiten wiedergibt.
Péter Esterhazys Protagonist benötigt keine
enervierende "Blechtrommel", sondern improvisiert
gewissermaßen auf seiner "inneren Gotttrommel", auf welcher
der Bub beharrlich die großen Daseinsfragen anklingen
lässt, könnte man sagen. Dass es aber auch dieser
Wicht, der eines Tages quasi aus dem Nichts mit einem
fürchterlichen Gewaltakt in die Sündenwelt der
Erwachsenen eintritt, faustdick hinter den stets gespitzten Ohren hat,
überrascht vielleicht doch ein wenig. Allenfalls
könnte der Leser bei guter Gelegenheit selbst das Tatmotiv
ergründen und ein Psychogramm des Knaben erstellen ...
Die Macht der Geschichten, die Schichten der Geschichten:
Ereignisse parallel zur Jesusgeschichte erzählt
Vordergründig geht es um das kindlich inbrünstige
Beten immer und überall, um die innere Rede mit Gott, um die
ganz eigene Weltsicht und um das Erforschen der Zusammenhänge
in einer von Verhaftungen, Ermordungen, Selbstmorden und Elternzwisten
geprägten Kindheit. Die Atmosphäre ist aufgrund
der alles überschattenden Angst der Erwachsenen
verdüstert. Im Hintergrund liefert durchgehend das Leben des
Erlösers das Bühnenbild, wobei die Ebenen einander -
natürlich, schließlich ist Péter
Esterhazy der Regisseur - durchdringen. Leidensgeschichten, wohin das
Auge schaut.
Der Vater des Icherzählers, ein trinkfreudiger, eher
schweigsamer Herr Doktor, seine kühle, meistens schlecht
gelaunte Mutter, in zweiter Ehe verheiratet, sein älterer
Halbbruder aus der ersten Ehe der Mutter (dessen Vater, die
große Liebe der Mutter, ist in den Wirren der damaligen Zeit
gewaltsam ums Leben gekommen), die bis zu ihrer schweren Erkrankung
stets über Gott sprechende und über Jesus
erzählende Großmutter - sie alle sind als
"Volksfeinde" (ebenso wie die Familie Péter
Esterházys , diese wurde unter kommunistischer Herrschaft
enteignet und deportiert) aus Budapest weggebracht und bei einem
Kulaken und dessen Frau in einem nordungarischen Dorf einquartiert
worden und stehen unter Polizeibeobachtung.
Wie Péter Esterházy die
äußerst schwierigen Lebensumstände aus
zumeist, doch nicht durchgängig, man kennt ja des Autors Stil,
kindlich-aufgeweckter Perspektive schildert, erinnert gelegentlich an
Passagen in Romanen Mircea
Cărtărescus, die aus dem Blickwinkel eines
kränklichen hochfantasievollen Kindes vom Alltag in Ceauşescus
Rumänien berichten.
Die Brüder besitzen eine "Geheime Schatzkammer" voller toller
Fundstücke, sie verbringen viel Zeit miteinander, der
ältere Bruder schreibt unentwegt mit seinem Bleistift
Geschichten in ein Heft, die Familie ist in einem einzigen Zimmer
untergebracht, weshalb die Kinder alles hautnah mitbekommen, was sich
zwischen den Eltern abspielt (nächtliche Auseinandersetzungen,
Geschlechtsverkehr); es gibt kaum Privatsphäre. Über
dem Bett des Icherzählers hängt ein strahlendes Bild
des Jesuskinds, an anderer Stelle ein
furchteinflößendes Kruzifix.
Es kommt zu erotisch angehauchten Begegnungen zwischen der
wohlgenährten Nachbarin Mári und der Mutter des
Knaben sowie dem Knaben selbst, er wird zu einem heimlichen Treffen mit
der anderen Schwiegermutter mitgenommen, in einer
traumatischen Szene findet er die Großmutter im
Gemüsegarten liegend, danach ist sie halbseitig
gelähmt und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nach einer
völligen Wesenswende beziehungsweise einem
erschütternden Ausbruch des bislang Unterdrückten
übernimmt der Icherzähler die Schreiberrolle seines
Halbbruders, und man erfährt noch einige Details aus den
weiteren Lebenswegen der Familienmitglieder nach der Zeit des
Schreckens.
Beeindruckend ist vor allem die grandiose Verdichtung, die Art, wie der
Autor die einprägsame Atmosphäre auf kaum mehr als
einhundert Seiten eingefangen hat, wobei das letzte Romandrittel den
Eindruck erweckt, der Autor habe zunehmend sowohl Freude als auch
Interesse an Hauptfigur sowie Szenerie verloren.
Das Ende kommt auch wirklich erst im dritten Anlauf, vielleicht auch
dies von biblischer Tragweite, wer weiß?
Lesenswert ist "Die Markus-Version" in der feinen Übersetzung
von Heike Flemming fraglos, stehen doch die Sprache an sich und ihr
Gebrauch bei Péter Esterházy stets im Mittelpunkt.
(kre; 03/2016)
Péter
Esterházy: "Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma
hundert Seiten"
(Originaltitel "Egyszerű történet vessző
száz oldal - a Márk-változat")
Übersetzt von Heike Flemming.
Hanser Berlin, 2016. 112 Seiten.
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Péter
Esterházy wurde am 14. April 1950 geboren, er starb am 14. Juli 2016 im
Alter von 66 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Weitere Buchtipps:
Ludger Schenke: "Das Markusevangelium. Literarische Eigenart - Text
und
Kommentierung"
Gut vierzig Jahre nach dem irdischen Wirken des Jesus von Nazaret
erzählt der Autor Markus die Ereignisse um Jesus nicht, um im
"objektiven" Sinn Historie zu erzählen, sondern als
"fundierende Geschichte" (Jan
Assmann). Als solche gibt sie Antwort auf die Frage, welche
Bedeutung das einmalige Leben und Wirken des Menschen Jesus
für die Leser hat. Das, was in Galiläa einstmals wie
erzählt geschehen ist, soll auch den Lesern widerfahren. Erst
wenn es dazu kommt, ist das erzählte Geschehen an sein Ziel
gekommen und erneut Wirklichkeit geworden, was sich damals ereignet
hat. Es geht im Markusevangelium also um Erinnerung als
Vergegenwärtigung. Durch die Erzählung entsteht Jesu
"Welt" neu, in die der Leser eintreten kann. Das Markusevangelium ist
als bewusst gestaltete Erzählung voll
rätselhafter
Züge aufzufassen. Den vom Erzähler vermittelten
Kommunikationsvorgängen im Text ist nachzugehen und die
Aufmerksamkeit auf die Kommunikation zwischen dem Text (Autor) und den
Lesern zu lenken. (Kohlhammer)
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Michael Krämer: "Die
Entstehungsgeschichte der
synoptischen Evangelien"
In dem Band zum Matthäusevangelium hat Michael Krämer
eine neue Erklärungsmethode aufgezeigt, die nicht mehr der
Zwei-Quellen-Theorie folgt, sondern sich an der geschichtlichen
Entwicklung der Urgemeinde orientiert und so das
Matthäusevangelium als das älteste Evangelium datiert.
Diese Methode führt Krämer im vorliegenden Band zum
Markusevangelium fort. Danach erweist sich das Markusevangelium, in dem
die Taten und Reden Jesu für die Christen in Rom festgehalten
sind, als den Anfängen sehr nahe, sich an der Urform des
Matthäusevangeliums orientierend. Das zeigt sich zum Beispiel
daran, dass die Auseinandersetzungen der Judenchristen mit den Juden,
die typisch sind für die spätere Entwicklungsphase
und die für die Christen in Rom kaum von Interesse gewesen
sein dürften, nicht thematisiert werden; so fehlt etwa der
Stammbaum Jesu ganz, weil er erst etwas später in der
Argumentation gegenüber den Juden gebraucht wurde. (Echter)
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Hans-Martin Gauger:
"Vom Lesen und Wundern. Das Markus-Evangelium"
Dies ist das Buch eines Laien, nicht eines Fachgelehrten. Es versucht,
sich fragend in einen fernen Text hineinzudenken. Es will, mit seinem
Leser, den "Markus" lesen, das Evangelium nach Markus.
"Warum gerade Markus? Seine Schrift ist die älteste.
Übrigens ist sie auch die kürzeste: Es sind nur, je
nachdem, zwanzig oder dreißig Seiten. Man weiß,
weil dies aus ihren Schriften hervorgeht, dass Matthäus und
Lukas den Text des Markus als Vorlage hatten - dass es so ist, zeigt
allein schon der Vergleich dieser drei Schriften untereinander. Und
dass Johannes, der die seine anders angelegt hat, Markus gar nicht
gekannt haben soll, ist sehr unwahrscheinlich. Was also die Schriften
über Jesus angeht, hat mit Markus alles begonnen." Der
Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger schreibt, als läse er
laut vor, unterbricht und fragt und versetzt sich und den Leser in
Staunen. Je näher seine Fragen dem Text buchstäblich
zu Leibe rücken, um so mehr wird Markus zu einem
Reisebegleiter in eine biblische Landschaft, und was Gauger darin
entdeckt, stellt Denken und Glauben
auf die Probe. (Suhrkamp)
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