Mathias Énard: "Kompass"


Der Orient, Wien und die unerfüllte Liebe

Mathias Énard, Jahrgang 1972, bekannt durch die hervorragenden Romane "Zone", "Straße der Diebe" und "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten", hat für seinen Roman "Boussole" im Jahr  2015 den "Prix Goncourt" erhalten. Dieser liegt nun, hervorragend übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, im Verlag Hanser Berlin vor.

Ausgangspunkt für diese unsentimentale, wenngleich bewundernswert nostalgische und sehnsuchtsvolle Reise in der Orient ist eine besorgniserregende Diagnose, die der Wiener Musikwissenschaftler Franz Ritter erhalten hat. Ritters primäre Beschäftigung ist jene mit dem Einfluss der Türkei auf die mitteleuropäische Musik. Hindemith, Bartók und auch Liszt, dazu Mahlers Rückertlieder und letztendlich auch Mozarts Rondo "alla turca". Ein Thema, das musikwissenschaftlich wirklich hohe Relevanz hätte, auch wenn wichtigere Beispiele in der Musik übersehen werden. Natürlich findet Énard die Beispiele, die seine Leser kennen. Die Angst vor dem Tod lässt ihn allerdings schlaflos wachen. Zwischen dreiundzwanzig Uhr und sieben Uhr früh gräbt er, inspiriert durch einen us-amerikanischen Ratgeber, der das Hervorholen der "glücklichen Orte" (Happy Places) aus dem Gedächtnis als Ablenkung gegen die Schlaflosigkeit empfiehlt. Zusätzlich konzentriert er sich auf die elementaren Zustände seines Körpers und des Lebens, das Atmen.

Und so bewegen sich seine Gedanken in diesen acht Stunden auf erinnerten Streifzügen durch Wien, Istanbul, Aleppo, Teheran und Palmyra. Seine Konzentration wird von Zeit zu Zeit von der Straßenbahn, dem Nachbarn mit seinem furchtbaren Hund, wie auch den Weltnachrichten, die er beim nächtlichen Kochen eines Kräutertees hört, unterbrochen. Er tritt in imaginäre Dialoge mit alten und ehemaligen Bekannten, Orientalisten, die allesamt liebenswürdig und skurril sind. Ebenso schwebt eine melancholische Nebelwolke über ihnen, die nicht nur dem Dunstkreis eines opiumrauchenden Verehrers des persischen Dichters Hafis geschuldet ist.

Dazu kommen die Erinnerungen an Sarah, eine Literaturwissenschaftlerin, die sich mit den westlichen Schriftstellern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts im Orient beschäftigt. Eine passende Kombination zwischen Sarah und Franz, würde man meinen, bei all den Gemeinsamkeiten. Sarah ist jene Person, um die die erotischen Fantasien und Erinnerungen von Franz kreisen. Besonders glückliche Momente, idyllische Momente, missglückte und komplett schiefgelaufene Begegnungen, sowie Sarahs ewig andauerndes Schweigen prägen die realen Erinnerungen, die Franz an die traute Zweisamkeit hat. Sarah bleibt, nach besonders tollpatschigen Versuchen, die ferne Geliebte von Franz, der sich im Gegensatz zu Sarah, die weiterhin die Welt bereist, mit seiner Wohnung in Wien zufriedengibt, die nur einen Steinwurf von der berühmten Wohnung des Dr. Sigmund Freud entfernt liegt. Die Beziehung von Sarah und Franz ist jedoch rückblickend der einzige Schwachpunkt dieses Romans, weil sie fast wie ein Fremdkörper wirkt, unfähig zur Integration in die feinen Verästelungen der orientalischen Erinnerungen, die wirklich spannend und anregend sind.

Dieser vielschichtige Roman, den Mathias Énard "den Syrern" gewidmet hat, ist, trotz aller Bewunderung, ein recht schwierig zu erschließendes Leseerlebnis. Definitiv kein Buch für zwischendurch oder unterwegs, ist dieser Text, wenn man im Sprachrhythmus Énards endlich Fuß gefasst hat, allerdings eine unglaublich bereichernde Erfahrung.

Énards literarische Orientreise, die gelehrt und wortmächtig dahinfließt, zieht ihre Kraft aus jenem Gebiet, welches das Ziel der Sehnsüchtigen ist. Spirituell, erlösend und philosophisch. Wüste, Sand, Sonne, Opium, Wahn, Ausschweifung: die Elemente der Sehnsucht der geistig Schaffenden - alles kommt vor und ist unerlässliche Quelle der Inspiration. Er lässt seinen Protagonisten unter Anderem die These vertreten, dass alle, zumindest mehr oder weniger, die seit Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 über nennenswertes kreatives Potenzial verfügt haben, in Wahrheit Morgenlandfahrer waren. Natürlich zieht Énard hier über die Verästelungen der Lebensgeschichten und Begegnungen, die dieses literarische Pendel zum Schwingen bringen, alle Register seines Könnens. Akribische Betrachtungen, auf kleinste Ereignisse gerichtete Aufmerksamkeit; mit fast fanatischer Euphorie geht man diesen Weg in den Orient mit dem Autor mit.
Der Weg geht in Richtung des Ostens. Nur da, ist, wie es hier heißt, die "Andersheit" zu finden.

Auch wenn sich Énard dem politischen Roman erfolgreich verwehrt, ignoriert er die Entwicklungen im Orient nicht. Vor allem die Reisen nach Aleppo oder Palmyra zeigen mahnend, ohne den berühmten Zeigefinger zu erheben, welche zerstörerische Kraft dort all das kaputt gemacht hat, was die orientalische Kultur aufgebaut hatte. Sehr spannend auch eine Erzählung aus dem Iran, die in die Zeit zwischen 1977 und 1981 führt. Sie erinnert daran, was religiöse Fanatiker und islamistische Wahnsinnige verbrochen haben.

"Kompass" ist ein hervorragendes Buch, das man sich als Leser wirklich erarbeiten muss. Die unzähligen Querverweise und Bezüge, die zahlreichen geschichtlich relevanten Daten, ebenso wie der fast mäandernde Schreibstil, der feinfühlig und nie unkonzentriert ist, machen es einem nicht leicht. Trotz allem ist es eines der raren Bücher, die noch lange, nachdem man sie fertig gelesen hat, leise nachklingen und berühren.

(Roland Freisitzer; 11/2016)


Mathias Énard: "Kompass"
(Originaltitel "Boussole")
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hanser Berlin, 2016. 432 Seiten.
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