Friedrich Christian Delius: "Die Liebesgeschichtenerzählerin"
Ein
sehr berührender Roman
Der neueste Roman von Friedrich Christian Delius heißt "Die
Liebesgeschichtenerzählerin" und beschäftigt sich mit
dem Entschluss einer fünfzigjährigen Frau, endlich
ihren Lebenstraum vom Schreiben in die Tat umzusetzen. Das geschieht im
Januar 1969 am Strand von Scheveningen. In drei Tagen, die sie
unterwegs ist, erzählt Delius von drei Schreibprojekten, die
der Protagonistin durch den Kopf gehen, die sie im Geist entwickelt.
Eine Biografie über die von den Nazis hingerichtete
Pädagogin Elisabeth von Thadden hat sie bereits
während ihres bisherigen Lebens als Mutter von vier Kindern
und Ehefrau geschrieben, nun will sie sich dem Erzählen von
Liebesgeschichten widmen.
Das sind Geschichten, die an und für sich jeweils einen ganzen
Roman hätten füllen können, ja
wahrscheinlich sogar eine epische Trilogie. Die eine
beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Prinzen von
Oranien mit einer Berliner Tänzerin, aus dem 1812 eine
uneheliche Tochter hervorging. Die in weiterer Folge die
Ururgroßmutter der Liebesgeschichtenerzählerin Marie
wurde. Dann Maries eigene Liebe zu Richard, begonnen während
des Zweiten Weltkriegs, eine Liebe, deren Hauptbestandteile
Heimatflucht und das Warten auf die Rückkehr Richards aus der
russischen Kriegsgefangenschaft darstellten. Die dritte
Liebesgeschichte ist die ihrer Eltern, Hans und Hildegard, er
U-Boot-Kapitän, sie die Tochter eines Generalmajors. Diese
Liebe begann ebenso in einem Krieg, nämlich im
Ersten
Weltkrieg. Sie versucht, in Erfahrung zu bringen, wie diese drei
Geschichten zusammenhängen und begibt sich, da alle drei
Geschichten mit den Niederlanden verbunden sind, dorthin, wo alles
seinen Ursprung hat. Ein Telefonat mit ihrem Mann bringt sie allerdings
aus der Bahn, was diesem literarischen Wühlen in der
Vergangenheit eine weitere, den Roman lebendig werden lassende Ebene
zukommen lässt.
"Da stand die siebzehnjährige Schwester des heutigen
Prinzgemahls, gegen den rund zwanzig Jahre später die jungen
Holländer protestiert hatten, im Wohnzimmer, die Situation war
viel zu dramatisch, um sich an den Tisch oder aufs Sofa zu setzen,
Rixa
meinte es gut und wollte ihre Freundinnen retten, musste auch der
Mutter und Marie mit dem Kind das Angebot überbringen und
drängte noch einmal: macht schnell, kommt mit, kommt mit -"
Ohne sich auf das epische Potenzial dieser Geschichten einzulassen,
wählt der Autor eine extrem konzentrierte, poetische
Erzählweise, eine Erzählstimme, die man fast als
magisch bezeichnen könnte. Eine Art Impressionismus in der
Literatur, der allerdings nichts mit kitschiger Weichzeichnung zu tun
hat, sondern Ausdruck höchster poetisch-literarischer
Konzentration darstellt.
Dem Roman vorangestellt ist ein Gedicht des Autors, "Herab auf dem
Fluss", dem die Funktion einer lyrischen Ouvertüre zukommt.
Wie bereits in früheren Romanen, nimmt sich Friedrich
Christian Delius seiner Familiengeschichte an. Die Geschichte des
Prinzen Willem I. wurde, gänzlich anders instrumentiert, im
Roman "Der Königsmacher" vorweggenommen, und einige Punkte der
Geschichte Maries klingen noch aus dem zehn Jahre
zurückliegenden Roman "Bildnis der Mutter als junge Frau"
nach, was dafür sprechen würde, dass es sich hier um
ein weiteres Porträt seiner Mutter handelt. Und doch ist die
Figur Marie nicht die der Mutter des Autors, sondern die ihrer
Schwester, der etwas älteren Irmgard von der Lühe,
die ebenso wie ihre Schwester 1942 ihr Studium in Rostock abbrechen
musste. Neben der bereits erwähnten biografischen
Veröffentlichung hat sie Gedichtbände publiziert
sowie Bücher über den Widerstand
während der
NS-Zeit. Romane hat sie jedoch, zumindest konnte der Rezensent
keine
Hinweise auf solche finden, keine geschrieben oder
veröffentlicht.
"Nach diesen zwei Nächsten geht es los, er wird
apathisch, kriegt Anfälle von Sprachstörungen und
Gehstörungen, alle paar Minuten schlenkern die Beine hin und
her, und dabei kann er nicht sprechen, die Muskeln versagen, er wird
ganz kraftlos, passiv, Marie bildete sich manchmal ein, sie
könnte sich daran erinnern, obwohl sie nicht mal ein Jahr alt
gewesen ist im
"Die Liebesgeschichtenerzählerin" ist kein linear
erzählter Roman, der einer bestimmten Entwicklung oder
Handlung folgt. Seine Entwicklung führt über
Gedanken, Betrachtungen, Ideen, Beobachtungen und Antworten auf
aufgeworfene Fragen in einen Mahlstrom der literarischen Deutung, der
ebenso beeindruckend wie auch berührend ist.
Erzählt wird in unterschiedlich langen Sätzen, die
jeweils einen eigenen Absatz für sich beanspruchen und immer
offen enden. Zwischen den (Ab)Sätzen erlaubt eine Leerzeile
genug Zeit und räumlichen Abstand, dass bei Beginn des
nächsten Satzes gerade nur ein Minimum an Nachklang den neuen
Gedanken färbt. Kein Punkt schließt das Gesagte ab,
Gedankenstriche lassen am Ende der Sätze gerade so viel offen,
dass man als Leser gefordert ist, sich voll und ganz auf diesen
poetischen Duktus einzulassen, wenn man hier zwischen den Zeilen lesen
möchte. Eine Hingabe, die sich hier definitiv bezahlt macht,
da die 206 großzügig bedruckten Seiten eine
Intensität erreichen, die viele epische
Vierhundertundmehrseiter nicht einmal annähernd für
sich beanspruchen können.
"Die Liebesgeschichtenerzählerin" ist ein wirklich
berührender Roman, dessen wunderbar gezeichnete Bilder noch
lange im Gedächtnis herumschwirren, nachdem man die
Lektüre beendet hat. Er bringt einen dazu, noch lange
über die Sätze nachzudenken, die hier so auffordernd
offen bleiben, weil man längst weiß, dass hier, wie
im Leben, nichts schwarz oder weiß ist, dass es keine
eindeutigen Wahrheiten gibt, sondern nur jene, die man selbst aus der
Geschichte des Lebens herausliest. Die feine Konstruktion, die
tiefgehende Geschichte und die wunderbar poetische Prosa
wird, ebenso wie die vom Autor eingeforderte Konzentration
des Lesers, diesem feinen Roman der leisen Töne in unserer
schnelllebigen Zeit wahrscheinlich keine allzu große
Leserschaft bringen. Nichtsdestotrotz, oder noch besser gerade deshalb
kann die Empfehlung des Rezensenten gar nicht groß genug sein.
(Roland Freisitzer; 04/2016)
Friedrich
Christian
Delius: "Die Liebesgeschichtenerzählerin"
Rowohlt Berlin, 2016. 206 Seiten.
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