László Darvasi: "Wintermorgen"
Novellen
Dunkle
Daseinswinkel, gekonnt ausgeleuchtet
László Darvasi ist ein vielseitiger Autor, er
veröffentlicht Lyrik und Prosa wie auch Zeitungsartikel. Man
darf mutmaßen, seine frühere
Fußballbegeisterung komme mitunter im Tempo seiner Novellen
zum Ausdruck, überdies scheinen unermüdlich
zündende Ideen von der Ersatzbank eingewechselt zu werden -
das Resultat ist sozusagen eine Schreibtaktik mit Torgarantie.
Wie der Verlag anmerkt, wurde der Novellenband für den
deutschsprachigen Raum gegenüber der ungarischen
Originalausgabe vom Autor geringfügig verändert und
um die Texte "Tips für Hundehalter", "Der Tod des Nachbarn"
und "Der Baum" erweitert, während "Stell es dir vor,
János!" und "Das Gebiss" nicht darin aufscheinen.
Die neuen Texte des
wendigen Geschichtenerzählers
demonstrieren mit ausschweifender Fantasie Vergnügen an
abwegigen Entwicklungen sowie tiefschürfendes Interesse an
Außenseitern, somit eine Herangehensweise, die viele Leser
wohl bereits aus der frühen Textsammlung, auf Deutsch im Jahr
2006 als "Herr
Stern" erschienen, kennen und schätzen. |
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"(...) denn was ist eine Novelle anders als eine sich
ereignete, unerhörte Begebenheit." - So sprach einst
der wirkmächtige Goethe,
nachzulesen in "Gespräche mit Goethe
in den letzten Jahren
seines Lebens" von Johann Peter Eckerman.
Heutzutage lautet die Definition von "Novelle" laut "duden.de": "Erzählung
kürzeren
oder mittleren Umfangs, die von einem einzelnen
Ereignis handelt und deren geradliniger Handlungsablauf auf ein Ziel
hinführt."
Und genau solche Erzählungen sind László
Darvasi gelungen, sie fangen das Unerhörte besonderer
Konstellationen in aller Kürze ein.
László Darvasi macht das Grauen quasi urbar, er
verleiht ihm in 34 Novellen Gestalt und bietet ihm eine Bühne.
Wie heißt es doch so schön in William
Shakespeares Theaterstück "Wie es euch
gefällt": "Die ganze Welt ist Bühne / Und
alle Fraun und Männer bloße Spieler./ Sie treten auf
und gehen wieder ab,/ Sein Leben lang spielt einer manche Rollen."
(Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel)
Unter Darvasis "bloßen Spielern" finden sich in ungarischen
Dörfern und Städten ansässige
Geldeintreiber, Kriminelle und selbsternannte Wohltäter, auf
den ersten Blick unauffällige Angehörige der
Mittelschicht ebenso wie einfache Arbeiter, Straßenkinder,
Zigeuner, Narren und Irre, Rachsüchtige, Einsame, Siechende
und Suchende - allesamt Sonderlinge und Randexistenzen auf ihre jeweils
höchstpersönliche Weise.
László Darvasis Geschichten thematisieren
schonungslos offen körperliche und seelische Grausamkeiten,
Werteverfall, moralische Verkommenheit, Abstumpfung im Alltag, Rache-
und Mordgelüste, Wohlstandsverwahrlosung, Liebe,
Gier und Hass, brutale Misshandlungen und rohe Gewalt in mannigfaltigen
Erscheinungsformen, geplante und tatsächlich
ausgeführte Morde, Konsumwahn, Familien- und
Generationenkonflikte, Heimlichkeiten, Nachbarschaftsstreitigkeiten,
Beziehungsprobleme, Sprachlosigkeit, Schmiergeldzahlungen, Krankheiten,
Unfälle, Verfolgungswahn und noch einiges mehr aus dem
Füllhorn menschlichen Nebeneinander- und Zusammenlebens.
Bier, Wein
und Schnaps fließen in Strömen, auch die
eine oder andere Tracht Prügel sitzt locker.
Das Böse im Menschen wird in bezeichnenden Situationen, die
nicht selten extrem ausarten, sich jedoch gelegentlich auch ohne
verheerende Ausbrüche auflösen, glaubwürdig
vorgeführt.
Die Novellen warten mit überraschenden Entwicklungen und
einmal amüsanten, dann wieder verstörenden Einsichten
in Gedanken, Worte und Werke des Menschen auf, brisante bis bizarre
Themen und Motive bestimmen das Bild.
Einige Kostproben, die natürlich nichts vorwegnehmen
können oder sollen: Ein Papagei verliert sein Leben, weil er
endlose Selbstgespräche eines einsamen Mannes aufgeschnappt
hat, eine Prostituierte
zweckentfremdet ein Kondom zum Schaden eines
Freiers, ein knapp dem Tod entronnener Tambourmajor tritt unverhofft
allein in einer Heilanstalt auf, ein Paar entgeht nur aufgrund von
häuslicher Gewalt einem tätlichen Angriff, der
ausgestopfte Hund Burkus legt den Grundstein für eine Romanze.
In der titelgebenden Novelle "Wintermorgen" erfährt ein Vater
mehr über seinen Sohn, als er je wissen wollte.
Wie man als unfallbedingt vollkommen gelähmter alter Mann mit
tadellos intakter Wahrnehmung Bettler, Kunstwerk und Häftling
ist, führt "Der Sturz" aus. Das tragische Ende einer
ausländischen Putzfrau, der wenig erstaunliche Selbstmord des
Verfassers eines Manuskripts mit dem Titel "Der Tod meines Nachbarn",
ein freundlich aufgenommener Einbrecher, ein Vater, der Pornofilme
sieht, in denen seine Tochter mitwirkt, ein Sohn, der seine
Rachegelüste an den Aquarienfischen seines
pflegebedürftigen Vaters befriedigt, ein Junge, der sein
"erstes Mal" keusch-theoretisch mit der Geliebten seines Vaters erlebt,
ein Sohn, der allabendlich seinen sturzbetrunkenen Vater, der sich
danach nicht daran erinnern kann, verprügelt und heimbringt,
eine Frau, die darauf beharrt, dass ein bestimmter Baum unbedingt
gefällt werden müsse, bis es zu spät ist, ...
László Darvasis schnörkellose Novellen
bewirken jedenfalls ein gesteigertes Misstrauen gegenüber
scheinbaren Idyllen und oberflächlich betrachtet harmlosen
Zeitgenossen, denn hinter den Kulissen lauert stets das Raubtier Mensch.
Heinrich Eisterer, 1960 in Wien geboren und seit dem Jahr 1998 vielfach
bewährter Übersetzer, u.A. mit dem
"Österreichischen Staatspreis für literarische
Übersetzung fremdsprachiger Literatur ins Deutsche"
ausgezeichnet, hat László Darvasis stilistisch
vielfältige und anspruchsvolle Texte kongenial ins Deutsche
übertragen.
Ein von der ersten Seite an packendes Lektüreerlebnis.
(kre; 11/2016)
László
Darvasi: "Wintermorgen. (Gott. Heimat. Familie) Novellen"
(Originaltitel "Isten. Haza. Csal")
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Suhrkamp, 2016. 348 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Fritz Breithaupt: "Die dunklen Seiten der Empathie"
Empathie
gilt als Grundlage moralischen Handelns - und damit selbst als gut.
Sieht man aber genauer hin, erweist sich die Fähigkeit, "sich
in andere Menschen hineinzuversetzen", auch als Voraussetzung
für gezielte Erniedrigungen und Grausamkeiten. Zudem hat
selbst das wohlmeinende Mitgefühl zahlreiche unbeabsichtigte
Konsequenzen. Aus diesen Gründen sind es gerade die dunklen,
bisher verdrängten Aspekte der Empathie, die auf dem Weg zu
einer besseren Gesellschaft in den Blick genommen werden
müssen. Fritz Breithaupt lädt seine Leser dazu ein,
diese Seiten zu bedenken oder gar an sich selbst zu entdecken, und
führt uns dabei von Narzissmus und Nietzsche
bis zu den
Helikopter-Eltern und Angela Merkels Flüchtlingspolitik.
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