William Boyd: "Die Fotografin"
Das
zwanzigste Jahrhundert, gesehen durch das Objektiv einer starken Frau
Wie bereits in seinem großartigen Roman "Eines Menschen Herz"
(hier allerdings in Tagebuchform), entwirft William Boyd wieder eine
faszinierende fiktiv-biografische Erzählung, die speziell die
Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts als alles bestimmende Kulisse hat.
In diesem Roman folgen wir Armory Clay, die ihren androgynen Namen
einem Spleen ihres Vaters verdankt, von ihrer
Geburt 1908 bis hin zu ihrem Tod durch eigene Hand 1983. William Boyd
bedient sich somit 75 intensiver Jahre in der Geschichte des
vergangenen Jahrhunderts, das von Kriegen gesäumt war.
Und diese Kriege sind auch verantwortlich für die vielen
Wunden, welche die hier versammelten Protagonisten unterschiedlich gut
oder auch schlecht wegstecken. Bereits Armorys Vater, dessen
schriftstellerische Ambitionen mit dem Erfolg eines einzigen
Theaterstücks gekrönt werden, kommt aus dem Ersten
Weltkrieg als veränderter Mensch zurück.
Armorys Geschwister, eine jüngere Schwester, die
später eine große Karriere als Pianistin machen
wird, und ein ebenfalls jüngerer Bruder, der zur Lyrik finden
wird, bevor auch er ein Opfer eines Krieges wird. Die Mutter ist eine
phlegmatische Frau, die als einzige Person in der Familie frei von
künstlerischen Neigungen zu sein scheint.
Nachdem Armorys Vater versucht, sich und seine Tochter umzubringen,
beschließt Armory, die seit ihrem siebten Geburtstag
fotografiert, professionelle Fotografin werden zu wollen, was damals
natürlich noch nicht als angemessener Beruf für eine
Frau galt. Sie wird Assistentin ihres Onkels, der ihr den Weg in die
Berufswelt so gut wie möglich zu ebnen versucht. Dass ihm das
nicht allzu gut gelingt, liegt an den künstlerischen
Eigenheiten, die sich Armory im starrsinnigen England der
dreißiger Jahre erlaubt.
Sie geht nach Berlin, wo sie frivole Nachtklubszenen fotografiert und
spürt, wie die aufkeimende nationalsozialistische Gesinnung
überhandnimmt. Zurück in London, wird ihre
erfolgreiche Ausstellung bald von den Behörden gestoppt, und
alle Fotografien werden vernichtet. In dieser leidvollen Zeit lernt sie
einen Mann kennen, der einen besonders wichtigen Einfluss auf ihr Leben
haben wird. Cleveland Finzi, der sie bald nach New York holt, wo sie
für sein Magazin fotografieren wird und aus den beiden ein
Liebespaar wird. Ebenso lernt sie den französischen Autor
Jean-Baptiste Charbonneau kennen, der in diplomatischer Mission in New
York ist. Auch er wird ein ganz wichtiger Mann in ihrem Leben werden.
Sie wird Kriegsfotografin und reist fotografierend durch Frankreich und
Tunesien.
In weiterer Folge pendelt ihr Leben zwischen Erfolg und
Niedergeschlagenheit, zwischen New York und London, bevor sie Sholto
Farr heiratet und mit ihm eine Familie gründet. Auch er
allerdings ein vom Krieg gezeichneter Mann, der nicht alt wird.
Eine letzte Station in ihrer Tätigkeit ist dann im
Vietnamkrieg,
wo ihr noch eine kurze und leidenschaftliche Beziehung zu einem
jüngeren US-Amerikaner gegönnt ist, bevor auch er
Opfer des Krieges wird und sie sich in ihr Haus auf dem Land
zurückzieht. Dort verfasst sie ihre Erinnerungen, die diesen
Roman bestimmen.
William Boyd hat einen eindrucksvollen Roman geschrieben, der nicht nur
eine Lebensgeschichte erzählt, die so plausibel erscheint,
dass man geneigt ist, zu überprüfen, ob Armory Clay
nicht doch existiert hat. Es ist eine Geschichte, die auch zeigt, wie
sich die Rolle von Frauen im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt
hat, die zeigt, welche Wunden die Kriege aufgerissen haben, die im
zwanzigsten
Jahrhundert so zahlreich waren.
Zusätzlich ist es
ein Buch, das eine starke Frau im Mittelpunkt hat, die ihren Weg im
Leben und in der Liebe geht, egal wie viele Hindernisse man ihr in den
Weg legt.
Dazwischen hat William Boyd interessante Fotografien in den Roman
hineingeschummelt, die das Gefühl, einen wirklichen
Lebensbericht zu lesen, noch verstärken. Nicht alle
Fotografien sind künstlerisch überzeugend oder auch
notwendig, allerdings unterstützen sie sehr gut die jeweilige
Zeit und stärken den Reiz dieses Textes, der von Patricia
Klobusiczky und Ulrike Thiesmeyer ausgezeichnet übersetzt
worden ist.
"Wie lange man auch auf diesem kleinen Planeten verweilen mag,
was immer einem dabei widerfahren mag, das Wichtigste ist, dass man
dann und wann empfänglich ist für die sanfte
Liebkosung des Lebens."
Dieses Zitat, das Boyd seinem Roman voranstellt, soll aus einem Roman
Jean-Baptiste Charbonneaus stammen ("Avis de Passage", 1957) und trifft
die Aussage von "Die Fotografin" auf den Punkt.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 02/2016)
William
Boyd: "Die Fotografin"
(Originaltitel "Sweet Caress")
Aus dem Englischen von Patricia
Klobusiczky und Ulrike
Thiesmeyer.
Berlin Verlag, 2016. 556 Seiten.
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William
Boyd, 1952 in Ghana geboren, gehört zu den
überragenden europäischen Erzählern unserer
Zeit. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher und
wurde vielfach ausgezeichnet.
William Boyd lebt mit seiner Frau in
London und Südfrankreich.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Einfache
Gewitter"
Adam Kindred muss untertauchen, sofort. Nur Stunden zuvor hat er in
einem kleinen italienischen Restaurant in London Philip Wang
kennengelernt, Chefentwickler eines großen Pharmakonzerns.
Als er ihn wenig später in seiner Wohnung aufsucht, findet er
einen sterbenden Mann vor. In Panik flieht Adam, alle Indizien weisen
auf ihn. Er versteckt sich auf Brachland nahe der Themse und muss nun
im Untergrund, im Verborgenen leben. Kontakt zur Familie ist nicht
möglich, Kreditkarte und Mobiltelefon darf er nicht benutzen,
wenn er unerkannt bleiben will. Mit einem Mal erfährt Adam,
wie zerbrechlich seine so sicher geglaubte Identität ist, aber
auch, welche Kräfte jemand entwickelt, dem alles genommen ist.
(Berlin)
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"Eines
Menschen Herz"
Logan Mountstuart ist Schriftsteller, Kunsthändler, Spion:
Anfang Zwanzig brilliert er mit einer Shelley-Biografie, heiratet eine
adlige Dame, trifft auf Berühmtheiten wie Evelyn
Waugh (der ihn auf einer Party küsst!) und Virginia
Woolf
(die Zicke!). Er lernt in Paris Hemingway
und Picasso
kennen und kauft Gemälde von unbekannten Künstlern
namens Paul Klee und Juan Gris. In Form von Tagebucheinträgen
ist "Eines Menschen Herz" hochspannend und abenteuerlich komponiert.
(Berlin)
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"Ruhelos"
Was geschieht, wenn sich alles, was man über seine Mutter zu
wissen glaubte, plötzlich als Trugbild erweist? In dem langen
heißen Sommer 1976 erfährt Ruth Gilmartin die ganze
Wahrheit über ihre Mutter Sally: Dass sie Eva Delektorskaja
heißt. Dass sie eine russische Emigrantin ist. Dass sie im
Krieg als Spionin gearbeitet hat. Und dass ihr Leben bedroht ist.
Ans
Telefon geht sie nur nach vereinbartem Klingelsignal, und das Haus
verlässt sie im Rollstuhl, obwohl sie gehen kann. Wie gut
können wir einen Menschen kennen? Diese zutiefst beunruhigende
Frage stellt William Boyd in seinem atemberaubenden
Spionageerfolgstitel. (Berlin)
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"Eine
große Zeit"
Wien, 1913. Lysander Rief, ein aufstrebender junger Schauspieler,
hat
alle Zelte in London abgebrochen und sich nicht zufällig in
die
Stadt
Sigmund
Freuds begeben. Vor seiner Hochzeit muss er sich einem
delikaten Problem stellen. Doch als er im Wartezimmer von Dr.
Bensimon
Hettie begegnet, weiß er sofort, diese
unergründlichen braungrünen Augen werden ihn nicht
mehr loslassen. Hettie Bull öffnet ihm alle Türen zum
ausschweifenden Wiener Künstlerleben, sie betört,
umgarnt und blendet ihn und drängt ihn in ein
undurchschaubares Spiel, das ihn zur Flucht aus Wien und in die
Arme
zweier britischer Agenten treibt. Boyds Roman ist eine Erkundung
der
Tiefen menschlicher Psyche und ein Spionageroman zugleich. Mit
meisterlicher Hand entwirft Boyd einen Kosmos, der die Unruhe und
Rastlosigkeit einer Epoche zeigt, den schmalen Grat zwischen
Brillanz
und Scheitern. "Eine große Zeit" ist aber nicht allein ein
Parforceritt durch Europa und die Wirren des Ersten Weltkriegs, es
ist
ein großer wahrhaftiger Roman. (Berlin)
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