Marica Bodrožić: "Das Wasser unserer Träume"
Was
denkt jemand, dem man Denken nicht mehr zugesteht?
"Mein Innenland ist Rätselland" (Seite 77)
und "Die Sprache hilft mir zu sehen" (Seite 52) sind
vielleicht zwei Schlüsselsätze im verstörend
suchenden und letztendlich, aber doch hoffnungsarm findenden Text von
Marica Bodrožić.
Dem Protagonisten, als solcher wider den Wortsinn kein Handelnder, aber
ein Denkender, legt die Autorin einen zerrissenen und erst langsam
Struktur annehmenden inneren Monolog auf die komatös
unbeweglichen Lippen, in den verkabelten Kopf: Weder erinnert sich das
Unfallopfer an seinen Namen noch an ein Warum für den
gegenwärtigen Zustand.
Erst langsam nimmt der Mann wahr, dass im Krankenzimmer Menschen um ihn
sind, dass manche von ihnen regelmäßig wiederkehren.
Aus der anfangs wenig Halt und kaum Hoffnung gebenden Wahrnehmung, dass
gesprochen wird, wird Gehörtes, später zunehmend
Verständliches.
"Die Zeit gewinnt an Zähigkeit und Masse"
(Seite 64). Mit der wiedergewonnenen Zeit wird für den
neurologischen Patienten ein Sein greifbar, wird die Vergangenheit von
der Gegenwart geschieden. Manche Personen bleiben nur dunkle
Erinnerung, die Geliebte Nadushka (Verkleinerungsform von russisch
Nadeshda, "Hoffnung"!) und die ferne Jugendliebe Arjeta (albanisch
für "Goldleben") nehmen Namen und Gestalt an, werden zu
Wegmarken für das Zurückfinden ins konventionelle
Dasein.
Wer von der in Deutschland aufgewachsenen Kroatin schon einen der
bisher vier Romane gelesen hat, vor allem "Das
Gedächtnis
der Libellen" (2009) oder "Kirschholz und
alte Gefühle" (2012), dem erschließen sich
über die Namen der Hauptfiguren Nadeshda und Arjeta ungewisse
Spuren ins frühere Leben des Sprech- und
Bewegungsunfähigen.
Die von Handlungen unbegleiteten Gedanken des Reglosen formieren sich
über mehr als zweihundert Seiten zu einer neuen Welt, der die
Schriftstellerin eine poetische Gestalt und einen lyrischen Ton
verleiht. Kurze Sätze lassen Einsichten aufleuchten, ohne die
Tragik des Ganzen zu lichten. Wo Sprache
Gestalt annimmt, wird sie zur
imaginären Brücke und zum bildhaften Innehalten.
Freilich weiß niemand, ob und was Menschen in solchen
medizinischen Zuständen, im so genannten Locked-in-Syndrom
wahrnehmen, fühlen und denken. Dennoch nimmt man in der
Lektüre Teil an einer trotz unbestreitbarer sprachlicher
Eleganz bedrückenden Assoziationswelt.
(Wolfgang Moser; 11/2016)
Marica
Bodrožić: "Das Wasser unserer Träume"
Luchterhand, 2016. 220 Seiten.
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