Jean-Philippe Blondel: "This is not a love song"
Familienstillleben
Dass Jean-Philippe Blondel kein Autor ist, der episch angelegte Romane
schreibt, ist seit den ersten in deutscher Sprache erschienenen
Veröffentlichungen "Direkter Zugang zum Strand" (Piper
Verlag), "Zweiundzwanzig" (Mare Buchverlag) und "6 Uhr 41" (Deuticke)
bestens bekannt. "This is not a love song" ist ebenso kurz und
bündig gehalten, was die Lektüre dieses Romans zu
einem kurzweiligen Leseerlebnis werden lässt.
Vincent, in England lebender Franzose, der eine erfolgreiche
Konzessionskette aufgebaut hat, erfährt aus heiterem Himmel,
dass seine (britische) Frau eine Auszeit will.
"Dann erklärte sie mir, das sei bestimmt nicht der
Auftakt zu einer Trennung oder der Vorwand für ein
amouröses Abenteuer. Sie brauche einfach nur eine kleine
Auszeit."
Sie suggeriert ihm, dass er doch nach so langer Zeit wieder einmal
seine Eltern und Familie in Frankreich
besuchen könne, während sie ihre Zeit einfach eine
Woche lang damit verbringen möchte, nichts zu tun, keine
Verantwortung zu haben und einfach gedankenlos ins Kino zu gehen.
Langsam freundet er sich mit dem Gedanken an und stimmt dem Vorschlag
zu.
In Frankreich angekommen, wird er sofort von der Vergangenheit
eingeholt, die er vermeintlich längst hinter sich gelassen
hat. Seine Eltern, die Langeweile des Dorfes, eine ehemalige
Jugendliebe, sein Bruder und dessen Frau, mit der ihn keine
großen Sympathien verbinden: Sehr rasch merkt er, wie viele
unaufgeräumte Punkte es aus seiner Jugendzeit noch gibt.
"Ich schließe die Augen und erstelle im Kopf eine
Liste der Dinge, die ich in dieser Woche in Frankreich machen will. Das
beste Mittel, um einzuschlafen. Natürlich etwas Zeit mit
meinen Eltern verbringen. Meinem Vater helfen, den Hauseingang neu zu
streichen, das ist bei ihm eine richtige Obsession geworden ...
Versuchen, mit Jérôme zu reden - auch wenn keine
große Hoffnung besteht, dass das irgendetwas bringen
könnte ... Vielleicht zufällig Fanny über
den Weg laufen. Nein, es nicht dem Zufall überlassen. Sie
anrufen und nicht wieder auflegen."
Erwartungsgemäß kommt alles anders. Das Treffen mit
der ehemaligen Jugendliebe findet wirklich zufällig statt. Mit
dem Bruder ergibt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten wider
Erwarten doch eine vernünftige Gesprächsbasis.
Jean-Philippe Blondel nimmt einen fast langweilig erscheinenden Vorwand
als Ausgangspunkt für einen Text, der fragmentarisch, kurz und
meist recht trocken ein Porträt eines Mannes zeichnet, der an
jenen Verwirrungen leidet, mit denen sich wahrscheinlich jeder Leser
schon herumgeschlagen hat oder weiterhin tapfer schlägt.
Vincents Gedanken, Lösungen und Reaktionen sind weder
besonders originell, noch mutig, noch inspirierend, sodass man beim
Lesen immer wieder einmal fragt: warum eigentlich?
Doch plötzlich kippt der etwas dahinplätschernde
Erzählstrang, der fragmentarisch und sprunghaft ist. Kurze
Sätze dominieren die Prosa, die durchgehend das
Gefühl gibt, als würde man Zeuge eines an fremde
Ohren gerichteten Wechselspiels zwischen Gedankenmonologen und
Selbstgesprächen, ebenso wie direkte Anrede des Lesers,
werden. Nachdem so etwas wie brüderliche Eintracht hergestellt
ist, erfährt Vincent von den überaus privaten
Problemen des Bruders. Was bisher sehr klar war, driftet nun in
teilweise bewusst konfus gehaltene Passagen, die dem Leser keine
wirklich genauen Anhaltspunkte geben, ob er sich in der
Realität oder Fantasie des Protagonisten befindet.
"Céline beachtet mich nicht mehr. Sie fixiert einen
Punkt, der in der flirrenden Hitze am Horizont flackert. Darin sieht
sie die Schatten ihres Ehemannes und des gebrochenen Mannes. Sie
führt ihren monotonen Singsang fort. Sie hypnotisiert mich.
Ich fühle mich, als lebte ich auch in ihrer
Erzählung. Ein Schatten unter Schatten. Ein ferner Schatten.
Ansässig in einem utopischen Land. Abwesend. Komplett
abwesend."
Eine sehr eigenwillige Wendung bzw. Lösung des Problems des
Bruders führt das Buch zu dem erwartet offenen Ende, das
letztendlich beim Protagonisten, auch wenn er einige Baustellen
schließen konnte, wieder neue geöffnet hat. Und so
verabschiedet man sich nach 222 Seiten still und leise aus dem Leben
Vincents, Susans, Jérômes, Célines und
von den anderen Figuren dieses Stilllebens einer Familie.
Sehr gut übersetzt von Anne Braun, ist "This is not a love
song" ein eigenwilliger Roman, der sich schnell liest, der immer wieder
interessante Ideen und Situationen anreißt, der auch zum
Nachdenken anregt. In gewisser Weise ein starkes Abbild einer
Familienkonstellation mit verdeckten dunklen Punkten unter der
Oberfläche. Nicht mehr und nicht weniger.
Starke Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 02/2016)
Jean-Philippe
Blondel: "This is not a love song"
(Originaltitel "This is not a love song")
Übersetzt aus dem Französischen von Anne Braun.
Deuticke, 2016. 222 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Jean-Philippe
Blondel wurde 1964 im französischen Troyes geboren, wo er
heute auch als Autor und Englischlehrer mit seiner Familie lebt.
Weitere Bücher des Autors:
"Direkter Zugang zum Strand"
Die französische Atlantikküste, salzige Luft, weiter
blauer Himmel: Der kleine Philippe Avril sehnt sich danach, einen Tag
im "Mickey Mouse Club" verbringen zu dürfen, und findet fast
einen neuen Freund. Der achtzehnjährige Jean-Michel
träumt sich am
Strand
weit weg, bis in die noblen Landhäuser auf der anderen Seite
des Atlantiks. Und Henri hat vor Kurzem seine Frau verloren, der
"Tapetenwechsel" am Meer war die Idee seiner Kinder. Nun sitzt er
verlassen im Sand und weiß nichts mit sich anzufangen.
Danielle geht als Natacha auf Männerjagd und macht von sich
reden. Doch die bösen Zungen wissen nicht, wovon sich Danielle
in Wahrheit abzulenken versucht.
Zufällige Begegnungen, verpasste Gelegenheiten, unbedachte
Geständnisse und kleine Geheimnisse stellen die Weichen
für große Veränderungen. Klug und
nachdenklich erzählt Jean-Philippe Blondel von sonnigen Tagen
am Atlantik und hat dabei das ganze Leben im Sinn. (Piper)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
"Zweiundzwanzig"
Mit zweiundzwanzig hat man das Leben noch vor sich. Normalerweise. Doch
im Sommer 1986 glaubt der Erzähler, schon alles gesehen zu
haben, nachdem das Schicksal ihn erbarmungslos getroffen und er durch
zwei Autounfälle seine Eltern und seinen Bruder verloren hat.
Ein einziges Ziel ist ihm geblieben: der Ort Morro Bay an der
Pazifikküste, den Lloyd Cole in seinem Lied "Rich" besingt.
Mit der fixen Idee im Kopf, dort irgendeinen Frieden finden zu
können, macht sich der Erzähler auf zu einer Reise
nach Kalifornien, zusammen mit seiner Exfreundin Laure und seinem
besten Freund Samuel. Der Weg zum Meer hält nicht nur einige
Umwege (Las Vegas, Mexiko), Begegnungen (misstrauische Polizisten,
Pianistinnen mitten in der Wüste) und Erinnerungen (an die
Kindheit in einer französischen Kleinstadt) bereit und kuriert
die drei jungen Franzosen von ihrem us-amerikanischen Traum; er wird
auch zu einem Weg zurück ins Leben.
Wie Jean-Philippe Blondel es geschafft hat, mit einem Schicksal
weiterzuleben, das kein Schriftsteller seinem Helden zumuten
würde, davon berichtet er aus dem Abstand von zweieinhalb
Jahrzehnten. Mit unerhörter französischer
Leichtigkeit und heilsamem Humor erzählt der Autor hier seine
eigene Geschichte - die Geschichte einer Reise, die ihn gerettet hat:
aufrichtig, schonungslos, ohne falsches Pathos und mit dem Trost, der
im Leben selbst liegt. (Mare)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
"6
Uhr 41"
Soll er sie ansprechen? Was könnte sie - nach
dreißig Jahren - zu ihm sagen? Eine Zugfahrt, die das Leben
verändert ...
Cécile hat das Wochenende bei den Eltern
verbracht. Am
Montagmorgen sitzt sie erschöpft im Frühzug und
ärgert sich, dass sie nicht doch schon am Vorabend
zurück zu Mann und Kind gereist ist. Der Platz neben ihr ist
frei, ein Mann setzt sich. Cécile erkennt ihn sofort:
Philippe Leduc. Auch Philippe hat Cécile gleich erkannt.
Doch sie schweigen schockiert. Beide. Jeder für sich erinnern
sich Cécile und Philippe in den eineinhalb Stunden bis
Paris, wie verliebt
sie vor dreißig Jahren waren, als sie
zusammen ein romantisches Wochenende in
London verbringen wollten und
dort alles aus den Fugen geriet. Je näher der Gare de l'Est
kommt, desto mehr will man wissen: Endet die Reise dort, oder gibt es
ein nächstes Mal? (Deuticke)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen