Joanna Bator: "Dunkel, fast Nacht"
"Die
schlafende Stadt"
"Dunkel, fast Nacht" ist der dritte in deutscher Sprache erschienene
Roman der polnischen Autorin Joanna Bator, die sich bereits mit den
Vorgängerromanen "Wolkenfern" und "Sandberg" in die erste
Reihe der jüngeren Generation polnischer Schriftsteller
geschrieben hat. Für "Dunkel, fast Nacht" hat Joanna
Bator den "NIKE", Polens wichtigsten Literaturpreis, zugesprochen
bekommen.
Wie bereits dort, steht auch hier ihr Heimatdorf Walbrzych (dt.
Waldenburg) im Mittelpunkt des Geschehens. Die Journalistin Alicja
Tabor reist aus Warschau in ihre alte Heimat, um für eine
Reportage über drei verschwundene Kinder zu recherchieren. Ab
dem Moment ihrer Ankunft hat sie den Wunsch, dieser Enge und
Engstirnigkeit zu entfliehen. Sie quartiert sich in ihrem seit dem Tod
des Vaters leerstehenden Elternhaus ein, welches nur mehr von Albert,
einem alten Bekannten der Familie, instandgehalten wird.
Im Elternhaus kann Alicja den traumatischen Erinnerungen an ihre
Kindheit nicht entkommen. Der Selbstmord ihrer Schwester Ewa, noch
immer umgeben von vielen dunklen, unklaren Momenten, die Geschichte des
geistigen Verfalls ihrer Mutter, die in einer psychiatrischen Anstalt
geendet hat, der Tod des Vaters und letztendlich, sich aus all diesen
Faktoren ergebend, die Vergangenheit ihrer Familie.
In Walbrzych geschehen seltsame und undurchsichtige Dinge. Die Suche
nach den dort verschwundenen Kindern scheint nur
äußerst passiv und lieblos zu geschehen, fast so,
als wäre niemand an der Aufklärung der Fälle
interessiert. Alicja bemüht sich um Gespräche mit den
Personen, die den entführten Kindern nahegestanden haben. In
diesen Gesprächen offenbaren sich die unwahrscheinlichen
Defizite der Betroffenen, mangelnde Empathie, Lieblosigkeit und
Dummheit. Armut, Alkohol und Korruption sind die weiteren
entscheidenden Faktoren, die für die trostlose Stimmung in
Waldenburg verantwortlich sind. Gleichzeitig lernt Alicja Marcin
kennen, der gemeinsam mit Albert zum Schlüssel für
das Reich ihrer Kindheit und Jugend wird.
Es ist erstaunlich, wie Joanna Bator die verschiedenen
Handlungsstränge miteinander kombiniert, so dass sich alles
logisch zu einem Ganzen verbindet, auch wenn die Geschichten, die Bator
hier virtuos erzählt, bis in die Zeit des Zweiten
Weltkriegs
zurückgehen.
Sie zeigt ebenfalls ein Bild Polens in der heutigen Zeit. Ein Polen,
das unter einem fanatischen, fast nekrophil angehauchten Katholizismus
leidet, der zu den wildesten Auswüchsen führt. Ein
Polen, das an den Problemen leidet, an denen derzeit die meisten
Länder Europas leiden. Ein Rechtsruck, der sich dank sozialer
Medien ungehindert wie ein Lauffeuer verbreiten kann. Im vermeintlich
freien Raum des Internets, der Foren, mit Trollen
und ungebildeten Nationalisten, die aus der Unfähigkeit zur
Reflexion heraus gegen alles hetzen, was nicht katholisch
und polnisch
ist. Eine Art kollektiver Wahnsinn, der aus den Internetforen
bis über die Dörfer und Städte schwappt.
Joanna Bators Text ist akribisch detailliert und wunderschön.
Ein Attribut, das der Rezensent eigentlich nur ungern verwendet, das
hier aber schlichtweg unmöglich zu vermeiden ist. Eine extrem
feinfühlige Abfolge von Erzählperspektiven,
kombiniert mit einer sinnlichen Art von ironischer Empathie. Es ist
eine Genauigkeit, die den Leser zwingt, langsam zu lesen, auch wenn man
eigentlich genau das Gegenteil möchte, weil man einfach wissen
will, wie es weitergeht. Bators Können ist so immens, dass man
sogar diverse vielleicht etwas zu fantastisch geratene
Ausflüge ins Reich des Unerklärlichen, der
Katzenfresser und fantastischer Figuren, die immer wieder in groteske
Tableaus eingebettet sind, akzeptiert.
Die Figurenzeichnung Joanna Bators ist ebenso bestechend, selbst die
absurdesten Charaktere sind mit Empathie und
Einfühlungsvermögen gezeichnet, nur den anonymen,
primitiven, faschistischen Hetzern im Onlineforum,
das Bator für ein paar Texteinschübe herhalten
lässt, gewährt sie keine Sympathien, was allerdings
nur allzu verständlich ist. Diese wenigen Kapitel stehen in
ihrer Vulgarität der Ausdrucksmittel in extremem Kontrast zum
Rest des Romans, sodass hier auch eine ganz klar getrennte sprachliche
Linie gezogen ist.
Gemeinsam mit der Aufklärung der Entführungen
löst Alicja bei ihren Recherchen und Gesprächen,
durch Zuhören und Nachgehen auch die losen Enden ihrer eigenen
Vergangenheit auf, sodass sie zumindest vorerst entspannt in die
Zukunft schauen kann.
Einerseits Krimi, andererseits auch Liebesroman, ebenso groteskes
Sittenbild des heutigen Polen, fast eine regelrecht abenteuerliche
Nestbeschmutzung, ein eindringliches Manifest gegen Xenophobie und die
hysterische Erregung der als besorgte Bürger getarnten
Neofaschisten, ist "Dunkel, fast Nacht" ein einfach literarisch
spannender, grandioser Roman, der, vorzüglich von Lisa Palmes
übersetzt, hoffentlich eine sehr große Leserschaft
finden wird.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 03/2016)
Joanna
Bator: "Dunkel, fast Nacht"
(Originaltitel "Ciemno, prawie noc")
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.
Suhrkamp, 2016. 510 Seiten.
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Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan, bevor sie mit ihrem preisgekrönten Roman "Sandberg" auch international bekannt wurde.