Aharon Appelfeld: "Ein Mädchen nicht von dieser Welt"
Im
Wald
Bereits Aharon Appelfelds voriger Roman "Auf
der
Lichtung" befasste sich mit dem Thema einer Flucht durch
den Wald. Sein neuester Roman, "Ein Mädchen nicht von dieser
Welt" greift auf ein ähnliches Sujet zurück, ist aber
in sich viel kürzer, knapper und in fast
märchenhaftem Tonfall verfasst.
In seinem Buch "Geschichte eines Lebens" hat der 1932 in Czernowitz
geborene Aharon Appelfeld von seiner Kindheit erzählt, in der
er sich zwei Jahre lang in den Wäldern versteckt halten
musste, bevor er durch die russische Armee gerettet wurde. Für
ihn und hunderttausend Juden in der Bukowina waren Ghetto,
Todesmärsche und Konzentrationslager die auf sie zukommende
Katastrophe. Des Autors Eltern haben den Holocaust nicht
überlebt, nur ihm ist als zehnjähriger Junge die
Flucht in den Wald gelungen.
Hier beginnt alles damit, dass eine Mutter ihren Sohn aus dem Ghetto
schmuggelt und ihn im Wald versteckt. Sie bittet ihn, auf sich
aufzupassen und verspricht, wiederzukommen. Sie verrät ihm
nichts Näheres, doch der neunjährige Junge ahnt, dass
er in Gefahr ist. So wie alle Juden in ihrer Gegend. Während
er sich im Wald zurechtfindet, trifft Adam auf seinen ehemaligen
Schulkameraden Thomas, der ebenso von seiner Mutter in Ermangelung
einer anderen Möglichkeit im Wald zurückgelassen
wurde. Die beiden Jungen tun sich zusammen und bauen ein Hochversteck
in einem Baum. Zusätzlich schließt sich ihnen bald
ein Hund an, den sie noch von früher kennen.
"Dennoch hörte der quälende Hunger nicht
auf. Sie sehnten sich nach Brot, nach Suppe,
nach all den Gerichten,
die ihre Mütter immer kochten. Adam, der sonst kein
Träumer war, träumte einmal, seine Mutter
stünde in der Küche und schmierte ihm ein Brot. 'Ich
war so hungrig, dass ich ihr die Scheibe aus der Hand gerissen habe.
Natürlich habe ich mich gleich geschämt und um
Entschuldigung gebeten ...'"
Immer wieder begegnen sie Verwundeten oder Flüchtenden. In der
Nacht wird ihr Schlaf durch Schüsse
unterbrochen. Die Angst
lebt immer mit, sie wird nicht geringer, nur weil sich die beiden immer
besser zurechtfinden. Sie helfen, wo es geht. Verarzten die Verletzten,
geben von ihrem Essen ab, geben Deckung und sind so quasi in Spiegelung
ihrer Erwartungen die Rettung für Andere.
Irgendwann bemerken sie Mina, ein jüdisches Mädchen,
selbst in Not, das Kühe melkt. Sie ist sprachlos, blass und
hilft ihnen damit, dass sie Milch und Brot
für sie hinterlegt.
"Auch der Schnee ließ nicht lange auf sich warten.
Erst fiel er noch zusammen mit dem Regen nieder, doch von Tag zu Tag
wurde alles weißer. Mina fuhr fort, ihnen Päckchen
unter den Baum zu legen. Einmal war getrocknetes Obst darin, ein
anderes Mal stellte der freundliche Bauer einen Krug Sauermilch
für sie hin."
Die beiden Jungen sind sehr unterschiedlich in ihrer Natur.
Während der eine in allen Hilfestellungen eher Gottes Hilfe
sieht, erkennt der andere schlichtes Glück. Aus dieser
Dualität der Sichtweisen entwickelt Appelfeld seine
feinsinnige Zeichnung der beiden Persönlichkeiten.
"Was denn die
Juden Böses getan hätten, dass
sie so bestraft werden müssen?", fragt irgendwann
Thomas. "Die Menschen mögen die Juden nicht",
antwortet ihm Adam.
Diese kindliche, fast naive Einsicht und Betrachtung des Holocausts
bestimmt Aharon Appelfelds Prosa, die sich durchgehend fast wie ein
Märchen liest. Ebenso leitet das Ende in märchenhafte
Gefilde, wenn die beiden Mütter zu den Jungen
zurückkehren und die schwerkranke Mina zum Arzt der Roten
Armee bringen, der sie hingebungsvoll rettet.
"Ein Mädchen nicht von dieser Welt" ist ein kleiner Roman,
der, hervorragend übersetzt von Mirjam Pressler, nicht viel
will aber umso mehr sagt. Ein Roman, dem man auch unter den
Jugendlichen unserer Zeit eine große Leserschar
wünschen möchte.
Sehr starke Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 06/2016)
Aharon
Appelfeld: "Ein Mädchen nicht von dieser Welt"
(Originaltitel "Jalda sche-lo min ha-olam ha-se")
Übersetzt von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin, 2015. 125 Seiten.
Buch
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