Rüdiger Safranski: "Zeit"
Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Zeit-en-blicke
Die Zeit. Eine physikalische Größe oder eine
philosophische Frage, ein psychologisches Problem, ein Thema der
Biologie oder der Soziologie? Fest steht, wir alle nützen sie.
Wir lassen uns Zeit, wir nehmen uns Zeit, wir pflegen auch jemandem die
Zeit zu stehlen, und ja, wir schlagen sogar Zeit tot. Zeit als der
Ablauf allen Geschehens ist mit der Welt, mit uns, mit dem Leben
untrennbar verbunden. Sie strukturiert unser Sein, lässt uns
im Gegenwärtigen leben, mit dem Wissen des Vergangenen und der
Ahnung des Zukünftigen. Alle Versuche, sie festzuhalten und zu
messen, sind interessantes Stückwerk in dem
größeren Unterfangen, alle Aspekte des
Phänomens der Zeit zu erfassen. Wobei uns Individuen die Frage
ihrer Wirksamkeit auf uns am meisten bewegt. Was macht sie mit uns, und
was machen wir aus ihr? Rüdiger Safranski, einer der
großen deutschen Intellektuellen, versucht sich an einer
Antwort.
Safranski ist Philosoph, Kulturwissenschaftler, Autor und Biograf.
Seine großen Biografien über Goethe,
Schiller,
Nietzsche oder Heidegger gehören zum kulturellen Kanon. Seine
Arbeiten zu philosophischen Grundfragen wie das Böse
oder die Wahrheit sind bemerkenswert. Mit diesem Wissensfundus
nähert er sich in zehn Kapiteln, die auch als abgeschlossene
Essays für sich stehen könnten, dem Phänomen
der Zeit. Er beginnt mit der Langeweile, die er das "lähmende
Rendezvous mit dem reinen Zeitvergehen" nennt, und endet mit
der erfüllten Zeit, wo wir für einen Augenblick den
Blick in eine zeitlose Ewigkeit erhaschen.
Die Frage, die der Autor in den Raum stellt, gilt immer der Wirkung,
die eine bestimmte Zeiterfahrung auf uns hat. Wenn sich die Zeit ins
Unerträgliche zieht, stockt und sinnentleert erscheint,
erfahren wir die Zeit als Langeweile. Im christlichen Mittelalter
zählte sie noch zu den schlimmsten Sünden, verstanden
als Verschlossenheit gegenüber Gott, der uns sonst mit Leben
erfüllt. Sie kann aber auch als kreativer Impuls gesehen
werden, als Möglichkeit, einen neuen Anfang zu setzen, der die
Zeit wieder fließen lässt. Man lässt die
Vergangenheit hinter sich und bricht hoffnungsfroh in eine neue Zukunft
auf. Damit öffnet sich aber auch die Zeit der Sorge,
hervorgerufen durch das Ungewisse und Unvorhersehbare. Wobei die
Gleichung so einfach wie paradox ist: "Der eigene Tod ist
gewiss. Kein Grund zur Sorge? Der Zeitpunkt ist ungewiss. Daher sorgt
man sich."
Neben den lähmenden, euphorisierenden und
bedrückenden Zeiterfahrungen stehen jene, die uns als
objektive entgegentreten. Seit Menschengedenken wird die Zeit
eingeteilt und gemessen. Zuerst mit Hilfe wiederkehrender
Naturabläufe, dann mit Hilfe mechanischer Instrumente wie der
Uhr. Die Zeit wird vergesellschaftet, scheinbar gleich für
alle. Gleichzeitig wird sie auch bewirtschaftet. Eine
selbstverständliche Grundlage entwickelter Wirtschaftssysteme.
Vom gesellschaftlichen Umgang mit der Zeit kehrt der Autor mit seinen
Überlegungen dann wieder zurück zu existenziellen
Erfahrungen von Zeit. Zur Frage der befristeten Lebenszeit im Gegensatz
zur entfristeten Weltzeit, die zuerst einmal in der Erkenntnis
mündet, dass wir in Raum und Zeit nur ein winziges Atom sind.
Dieser Ungeheuerlichkeit einen Sinn zu geben, wer könnte das
besser als Religion und Philosophie? Christliche Heilsgeschichte, die
Idee des Fortschritts, die Vorstellung von der Evolution als Geschichte
einer Höherentwicklung, sie alle versuchten und versuchen, der
Absurdität Herr zu werden. In der modernen Wissenschaft, wie
in Einsteins
Relativitätstheorie, wird jedoch das
Rätsel der Zeit noch größer. Trotzdem, oder
gerade deswegen, landet Safranski in seinen Überlegungen immer
wieder bei den subjektiven Erfahrungen des menschlichen Individuums.
Stichwort: Eigenzeit des eigenen Körpers und seine Rhythmen.
Fast tröstlich muten die beiden letzten Kapitel an, in denen
uns der Autor mitteilt, dass wir trotz der Tatsache, dass wir
unwiderruflich unter der Herrschaft der Zeit stehen, immerhin auch mit
ihr spielen können. Launig erzählt er von den
Werkzeugen, die uns Spielräume für die Zeit
erschließen. Durch die Medien von Sprache und Schrift
öffnet sich ein ganzes Universum von Zeiten und Zeitschichten.
Es kommt etwas in die Welt, was längst vorbei ist oder erst
kommen wird, was es nie gegeben hat oder nie geben wird. Kurz und gut,
die Welt der Fantasie spielt mit den Zeiten, und die
Erzählkunst entwickelt eigene Zeitmuster, lineare, vernetzte
und zyklische. Hier ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur
erfüllten Zeit, die als Vorgeschmack auf das gesehen werden
kann, was man Ewigkeit nennt.
Zeit. Safranski spannt den Bogen seiner Betrachtungen von der
Langeweile als lähmendes Bewusstsein von leerer Zeit bis zur
erfüllten Zeit, dem zeitweiligen Verschwinden des
Zeitbewusstseins im Augenblick der Hingabe, wo sich Vergangenheit und
Zukunft in der Gegenwart auflösen. Die Befreiung von der Zeit
ist die Perspektive der Ewigkeit und der Unsterblichkeit, seit Plato
verbunden mit dem Versuch, das Ewige im zeitlich gebundenen
Körper zu finden. Die imaginierte Unsterblichkeit der Seele
tröstet jedoch kaum über den Zerfall des endlichen
Körpers hinweg, ein Widerspruch, den es zu ertragen gilt. Oder
mit den Worten Safranskis: Die Spannung zwischen einem subjektiven
Bewusstsein, dem mit dem eigenen Verschwinden alles ins Nichts
entgleitet, und einem objektiven Bewusstsein, für das die Welt
und die Zeit einfach weitergehen, ist letztlich "nur
auszuhalten bis zum offenen Ende".
Rüdiger Safranski, dem großen Literaturkenner, ist
ein kluges Buch gelungen, das die Leser leichtfüßig
in die kulturhistorischen und philosophischen
Zeitvorstellungen
einführt, in unterschiedliche Gedankengebäude
begleitet und immer wieder zu unseren gegenwärtigen
Alltagserfahrungen zurückführt.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 09/2015)
Rüdiger
Safranski: "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr
machen"
Hanser, 2015. 272 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Alexander
Demandt: "Zeit. Eine Kulturgeschichte"
Die Zeit vergeht im Fluge, doch tat sie das immer schon? Welche
Zeitvorstellungen begleiteten die alten Griechen und Römer
durch den Tag? Welchen Begriff hatten sie von Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft? Und wie beeinflusst ihr Zeitmaß noch heute
unseren Alltag? Der Althistoriker Alexander Demandt zählt zu
den wenigen seines Faches, die zugleich unterhaltsam und lehrreich zu
schreiben wissen. In der ihm eigenen kurzweiligen Art bringt er uns
eine Zeit nahe, die im wahrsten Sinne des Wortes ganz anders tickte als
unsere.
Was wir schon immer über die Zeit wissen wollten: Demandt gibt
beredte Auskunft. Warum beginnt das Jahr am 1. Januar? Weshalb ist der
September nicht der siebte (septem), sondern der neunte Monat? Warum
fällt der Schalttag auf den 29. Februar und nicht auf den 32.
Dezember? Wann wurde der Sonntag zum Ruhetag? Woher stammen die Namen
unserer Wochentage? Seit wann gibt es unsere Zeitrechnung? Anhand
vielfältiger Beispiele aus der antiken Überlieferung
entwirft Demandt eine Kulturgeschichte der Zeit und schlägt
den Bogen bis zur Gegenwart, die mehr denn je vom Takt der Zeit
geprägt ist. Eine ebenso unterhaltsame wie anregende
Zeitreise. (Propyläen)
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