Tim Winton: "Schwindel"


Eine verstörende Vision unserer Gesellschaft

Tim Winton ist einer der interessantesten Schriftsteller Australiens, der nach seinen großen Erfolgsromanen "Getrieben", "Der singende Baum", "Das Haus an der Cloud Street" und "Atem" nun seinen neuesten Roman "Schwindel" in deutscher Sprache veröffentlicht sieht.

Wie bereits in einigen früheren Romanen von Tim Winton, ist der Protagonist hier wieder ein Außenseiter, ein pillen- und alkoholsüchtiger Gestrandeter, der am tiefstmöglichen Punkt seines Lebens angekommen ist. Tom Keely ist ehemaliger Umweltaktivist, und sein derzeitiges Leben ist ihm so weit entglitten, dass er keinen Sinn mehr darin sieht. Er hat nicht nur allen Besitz verloren, sondern längst auch seine Frau, die ihn vor einiger Zeit verlassen hat.
Trost findet er nur mehr im Alkohol, sowie im Konsum von diversen schmerzstillenden Tabletten. Er wohnt in einer scheußlichen Gegend in Fremantle, einer Arbeiterstadt in Westaustralien, die ungefähr 30 Autominuten von Perth entfernt liegt.

Der Roman beginnt auch im Zustand eines besonders üblen Katers, aus dessen Nachwehen Tom sich dem Leser herausschälend nähert. Es ist schlichtweg herrlich, wie Tim Winton hier locker zwischen diversen Erzählperspektiven, Gedankengängen des Protagonisten und einfach vorwärtstreibender Handlungserzählung diese Eröffnung inszeniert, so geschickt und überzeugend, dass man dieses Buch einfach nicht mehr zur Seite legen möchte.

"Ihm fehlte der Mumm, um Sachen geradezubiegen, zu sehr war er an die Logik der Niederlage gewöhnt. Er sah es vor sich, wie der Rest des Abends verlaufen würde. Sie würden in angespannter Höflichkeit essen und aufstehen, kaum dass sie das Besteck weggelegt hatten. Sie würde darauf bestehen, ihn nach Hause zu fahren. Er würde protestieren und dann doch einsteigen. Und sie würde mit hochkommen und ein für alle Mal endlich seine Wohnung sehen wollen, ihn aber nicht darum bitten. Sie würde seinen Kuss auf die Wange wie zu niedriges Trinkgeld akzeptieren und dann mit dem alten Volvo-Kasten davonfahren, dabei so energiegeladen wirken wie immer und ihre Verletztheit und Enttäuschung verstecken ..."

Ebenso wie Tom, wohnt auch Gemma in diesem Haus. Gemmas Leben ist gleichfalls von unschönen Momenten und viel Gewalt unterschiedlichster Form geprägt. Sie lebt, ebenso wie Tom, hinter der Grenze zu unserer Wohlstandsgesellschaft. Ihr Enkelkind, ein zutiefst verstörter Junge, wohnt bei ihr, da ihre Tochter eine Gefängnisstrafe absitzt.

Als die beiden im Haus aufeinandertreffen, legt sich bei Tom ein Hebel um. Eine Art Beschützerinstinkt erwacht in ihm, ein längst verlorengeglaubtes Verantwortungsgefühl nimmt überhand, und er leitet dadurch einen Prozess ein, der einem Heilungsprozess äußerst nahekommt. Nicht nur übernimmt er sukzessive die Verantwortung für den Jungen, sondern immer mehr auch für Gemma. Schlussendlich naturgemäß auch für sich selbst.

"Als Gemma nach Doris' Abfahrt ins Bett ging, wartete er, bis Kai für die Schule angezogen war. Sah sein eigenes Kissen und die zusammengefalteten Laken auf der Couch. Ein Stapel Papiere ragte darunter hervor. Zu ordentlich zusammengeschoben, um zufällig dorthin gelangt zu sein. Als er sie durchblätterte, sah er, dass es Seiten aus einem Notizblock waren."

Dass dieser Roman nie zu einer larmoyanten, klebrigen Lektüre verkommt, ist Tim Wintons unspektakulärer, wandelbarer und immer im Dienste seiner ungebändigten Erzählfantasie stehenden Prosa zu verdanken, die erfreulich weit entfernt von der modischen Befindlichkeitsprosa einiger junger deutschsprachiger Schriftsteller ist. Die ebenso besonders gelungene Übersetzung von Klaus Berr aus dem australischen Englisch ist natürlich eine Wohltat. Dass Tim Wintons Prosa im Original naturgemäß noch eleganter und freier erscheint, liegt einzig und allein an den teilweise unüberbrückbaren Differenzen zwischen den beiden Sprachen.

Die psychologische Studie, die sich unter den Zeilen dieses wirklich wunderbaren Romans verbirgt, ist fein gearbeitet und überzeugend, und obwohl einige Abschnitte dieses Romans wirklich handlungsarm sind, kommt keine einzige Sekunde Langeweile auf. Winton nimmt seine Figuren ernst, er stellt sich nicht über ihre Probleme, sieht nicht auf sie herab und erweckt sie so zum Leben. So entsteht ein wunderbar erdiges Panorama einer kleinen Gruppe von Menschen, die nach harten Rückschlägen und vermeintlicher Unvereinbarkeit mit unserer Gesellschaftsstruktur aus ihrem Dornröschenschlaf zum Leben erweckt werden. Ein Leben, das hart und wenig herzlich ist, schlussendlich aber doch unendlich viel Hoffnung in sich birgt. Und dass so eine Geschichte funktionieren und fesseln kann, ist einzig und allein Tim Wintons Verdienst.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 09/2015)


Tim Winton: "Schwindel"
(Originaltitel "Eyrie")
Aus dem australischen Englisch übersetzt von Klaus Berr.
Luchterhand Literaturverlag, 2015. 477 Seiten.
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