Ilija Trojanow: "Macht und Widerstand"
"Wahrer Widerstand ist Widerstand gegen den Geist der Macht"
Der Buchtitel ist programmatisch, verkörpert durch die beiden Hauptfiguren des Romans. Das Wechselspiel ihrer in der ersten Person erzählenden Stimmen (in einem rohen inneren Monolog der Machtmensch, mehr im Stil eines bewussten Tagebuches der Widerstandsgeist) macht den Großteil des Buches aus. Dazwischen hat Ilija Trojanow immer wieder zwei Arten kürzerer Texte eingeschoben: Originaldokumente aus den für kurze Zeit teilweise einsehbaren Archiven der bulgarischen Staatssicherheit, wie der Roman überhaupt, wie es heißt, auf den schriftlichen und mündlichen Zeugnissen einer Vielzahl ehemaliger politischer Häftlinge sowie einiger Offiziere a.D. der Staatssicherheit der Volksrepublik Bulgarien basiert. Die zweite Gattung besteht aus eigenen Prosastücken, welche mit Jahrestiteln versehen ("1945 erzählt" der älteste, "2007 erzählt" der jüngste) zur Gesamtthematik passende Ereignisse oder Stimmungsbilder der Zeit auf primär literarische, gleichsam der Bürokratiesprache der Dokumente Paroli bietende Weise behandeln.
Metodi Popow ist ein skrupelloser Karrierist, Offizier der Staatssicherheit und hoher Funktionär der (erst kommunistischen, nach dem Fall des eisernen Vorhangs bald sozialistischen) Partei. An sich extrovertiert, hat er gelernt, von der Fähigkeit zu schweigen, welche er sich berufsbedingt gut aneignen musste, mittlerweilen - der Roman spielt von den vielen Rückblenden und Erinnerungen abgesehen in den Jahren zwischen der Wende und dem Beitritt Bulgariens zur EU - auch im Familienkreis Gebrauch zu machen, vor allem sonntags, wenn die missratenen neureichen Neffen und Nichten zu Besuch sind, große Sprüche klopfen und von seiner Frau gehätschelt werden. Wahrscheinlich würde Metodi neben solchen Sonntagsklagen dem Leser mit Žiwkowanekdoten und Politikerbesäufnisdetails auf die Nerven gehen, hätte er nicht eingangs eine Damenbekanntschaft gemacht, die durch die Behauptung, seine leibliche Tochter zu sein, ihn zu allerhand Rechtfertigungsversuchen und jedenfalls zu Erinnerungen der unliebsameren Art zwingt, war Metodi in jüngeren Jahren doch auch für Folter und den Umgang mit politischen Strafgefangenen zuständig gewesen.
So werden auch dem Leser verstörende Einblicke in das Folterhandwerk aus Tätersicht, Techniken, eingeschleuste Spitzel, unliebsame Vorfälle und dergleichen zuteil. Lieber berührt Metodi allerdings seine politische Karriere, kommentiert wichtige Punkte der bulgarischen Geschichte ("Stalin? Eine historische Figur. Errungenschaften, Fehler, alles im großen Format.") und die Veränderungen in seiner postkommunstischen Gegenwart, plaudert über Interna aus dem Zentrum der Macht (Metodis Trauzeuge übrigens kein Geringerer als Todor Žiwkow: der große Chef - wenn nicht Breschnew ebenfalls am Tisch saß), beschreibt Herkunft und Werdegang, alles dies in einer des groben Emporkömmlings würdigen Sprache. Metodis Selbstrechtfertigungen, Bauernschlauheiten und gelegentliche Wutausbrüche sind stimmig zu einer prächtigen, wenn auch nicht in alle Tiefen hinein ausgeloteteten Bonzenpsyche verschmolzen, die nicht nur bei Zufuhr von Alkohol (ein wirklich exzellenter französischer Cognac, "Major Zankow, Entschuldigung: Bankier Zankow", "vom Proletarier zum Aristokrat in drei Schluck") viele freiwillig und unfreiwillig komische Züge aufweist.
"Nicht bestrafte Verbrechen sagen die Zukunft voraus"
Konstantin Scheitanow, der Vertreter des Widerstandes, ist in den wesentlichen Zügen wohl jenem Mann, von dem die Dokumente des bulgarischen Geheimarchivs handeln, nachempfunden, und besitzt in seinem Anliegen nach Vergangenheitsbewältigung, seinem Kampf gegen Machtmissbrauch und angemaßte Autorität unverhohlen das Wohlwollen Trojanows. Konstantin hat, wie es heißt, noch eine Rechnung offen mit dem Verrat. Als junger Mann musste er wegen Sprengung einer Stalinstatue ein Jahrzehnt in einem berüchtigten Straflager für politische Häftlinge zubringen. Nun, nach der Wende, kämpft er, unbeirrter Widerstandskämpfer, um Offenlegung der Geheimdokumente, welche zahlreiche Verbrechen der einstigen Obrigkeit (und bis zu einem gewissen Grad der jetzigen, denn der Behauptung Metodis, die Partei sei nur eine Hülle der Macht und das Sagen hätten nach wie vor Geheimdienstler, würde er wohl nicht widersprechen) beziehungsweise, was Konstantin mindestens ebenso sehr interessiert, Handlungen von Verrat seitens der Widerstandskämpfer beinhalten. Die Macht versucht sich natürlich durch bürokratische und juristische Maßnahmen - kollektive Anklagen beispielsweise sind vom Gesetzgeber nicht vorgesehen - vor unerwünschter Einblicknahme zu schützen, doch manchmal ist der Zähigkeit Konstantins Erfolg beschieden.
Konstantin ist Anarchist (laut Trojanow im damaligen Bulgarien keine seltene Geisteshaltung unter jungen Männern), vor allem aber ein sehr starker, unbeugsamer wie eigenwilliger Charakter. In seiner Radikalität schon nicht gerade bequem für die Menschen, mit denen er freundschaftlichen Umgang pflegt, ist er in seinem unermüdlichen Aktendurchforsten und Einsichtnahmebeantragen für Leute wie Metodi geradezu Stachel im Fleisch, Verkörperung ihrer Schattenseite. So etwas wie ein theoretisches Konzept seiner Art von Anarchismus wird nicht geboten, dieser ist wohl eher etwas Negatives, so etwas wie ursprünglicher Widerwille gegen die Anmaßungen von Herrschaft. Was Konstantin aus seinem sogenannten Alltag erzählt, der kleinen Wohnung im 14. Stock eines heruntergekommenen Wohnhauses, den wöchentlichen Treffen mit alten Kameraden, ehemaligen Strafgefangenen, dem behutsamen wie direkten Umgang mit einer jüngeren Freundin, einer Krankenschwester, veranschaulicht gut Konstantins Seinsweise, wozu jedenfalls Streben nach Wahrhaftigkeit und ein böser Blick für die Schattenseiten der Macht gehören. Seine Überzeugungen veranschaulicht er entweder exemplarisch (z.B. wenn er nicht zögern würde, einen antiken Goldschatz zur Finanzierung des Widerstandes einzuschmelzen), oder indem einfach gezeigt wird, wie die Leute auf ihn und seine Wesensart reagieren.
"Die Messung des Schattens, den Polemik und Propaganda werfen, ermöglicht Rückschlüsse auf den Stand der Sonne."
Wo die Dinge ausgesprochen werden müssen, geschieht dies ausgiebig und klar: wenn Konstantin seine persönlichen Erfahrungen, die politischen und gesellschaftlichen Umstände des Landes damals wie heute thematisiert, Spitzelwesen, Korruption und Verbrechen benennt, wenig bekannte Hintergründe der bulgarischen Geschichte beleuchtet, über ziemlich dieselben Themen wie Metodi also spricht, jedoch nicht nur von einer anderen Perspektive, sondern - in der textlichen Gegenüberstellung besonders frappierend - einem ganz andersartigen, viel reiferen Bewusstsein aus. Das Straflagerleben, das ihn wie alle anderen Inhaftierten nachhaltig geprägt hat, erhält besonders viel Raum: die ganzen Unmenschlichkeiten, diesmal allerdings von der anderen Seite erlebt, was es bedeutet, wochenlange Einzelhaft in einer Dunkelzelle verbringen zu müssen, in welchen Situationen er knapp daran war, aufzugeben und Ähnliches mehr, aber auch die Solidarität, die die Gefangenen trotz unterschiedlichster, gegensätzlichster Weltanschauung miteinander verband ("In der Hölle geht die Saat der Menschlichkeit auf.") wird zur Sprache gebracht, und das Freiheitsgefühl desjenigen, der alles sagen kann, weil er nichts fürchtet, "Wer die schwerste Strafe aushält, ist ein freier Mensch", heißt es, während umgekehrt die äußere Welt, das Bulgarien der fünfziger und sechziger Jahre, wie ein gewaltiges Gefängnis erscheint.
"Macht und Widerstand"
ist ein großes Buch über die dunklen Stellen in der
jüngeren bulgarischen Geschichte im besonderen, die Schattenseite
der Macht im allgemeinen und ein leidenschaftliches Plädoyer
für Wahrhaftigkeit und Zivilcourage. Denn - um auch mit einem
der vielen zitatwürdigen kurzen Sätze Trojanows zu
schließen:
"Die
Feigheit ist die Grenze der Grausamkeit, aber die
Feigheit kennt keine Grenzen."
(fritz; 09/2015)
Ilija
Trojanow: "Macht und Widerstand"
S. Fischer, 2015. 480 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Ilija Trojanow und Susann Urban: "Durch Welt und Wiese oder Reisen zu
Fuß"
Erkundungen zu Fuß verändern das eigene Leben -
gelegentlich sind sie von magischer Kraft.
Gehen ist eine Lebenseinstellung und eine Weltanschauung, Rebellion und
Selbstverwirklichung - über Stock und Stein, durch Welt und
Wiese, ein Weg zu den Ursprüngen unserer Existenz.
Ilija Trojanow zählt zu den großen Reisenden unter
den Autoren der Gegenwart. Essayistisch-reportagehaft berichtet er von
eigenen langen Wanderungen: durch Tansania, vom Indischen Ozean bis zum
Tanganyikasee; vom Unterwegssein in Los Angeles oder über
seine Märsche durch die englischen Downs.
Diese Erfahrungen verschmelzen im Gesprächsaustausch mit
"Gurus" wie etwa
Henry
David Thoreau oder mit markanten Gestalten wie Pilgern,
Abenteurern, Mönchen, Soldaten,
Entdeckern oder Schwärmern und mit vielen Texten u.A. von
Matsuo Basho - bis Robert
Walser und Virginia
Woolf. (Die Andere Bibliothek)
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