Hans-Ulrich Treichel: "Frühe Störung"


Wollen, aber auch wieder nicht.

Hans-Ulrich Treichels Roman "Frühe Störung" bewegt sich auf vom Autor bereits bekannten Pfaden. Das Phänomen "Mutter" steht im Mittelpunkt. Beziehungsweise die Auswirkung einer klammernden Mutter, (die zum Zeitpunkt des Beginns des Romans bereits verstorben ist), und eines sich ungern von dieser Mutter lösenden Erwachsengewordenen, der eben der Protagonist dieses kurzen Romans ist.

"Frühe Störung" beginnt, wie schnell klar ist, in einer Therapiestunde auf der Psychoanalysecouch. Der Protagonist, der, wie wir erst später erfahren werden, Franz heißt, liegt da und erzählt zurückhaltend von seinen Sorgen. Unter Anderem der, als Kassenpatient sowohl beim Arzt, als auch bei der Kasse ungern gesehen zu sein.
"Wenn ich kein schwerer Fall war, dann war ich offenbar ein leichter Fall. Ich wollte aber lieber ein schwerer als ein leichter Fall sein, und das sagte ich dem Analytiker auch, worauf er nur erwiderte, dass ich weder leicht noch schwer, sondern genau richtig sei."

Franz ist das, was bereits die meisten Protagonisten der Romane Hans-Ulrich Treichels waren, nämlich ein Antiheld. Die Prosa Treichels ist ebenfalls, wie immer, blendend ausgehört, konstruiert und wäre, gäbe es Schönheitsnoten für Prosa, mit Bestnoten ausgestattet. Selbstironisch und anspielungsreich gibt sich der Text, der ein wenig darunter leidet, nicht aus der Feder des echten Woody Allen zu stammen.

Franz' Mutterbindung stellt eine frühe Störung, wie der Titel schon sagt, dar; nicht mehr und nicht weniger.
Bestechend, wie Hans-Ulrich Treichel den erzählenden Duktus an den Protagonisten anpasst, der hin und wieder witzig, meistens aber eher umständlich und voller Selbstmitleid auf den Haufen blickt, der sein Leben ist.

Der in Westberlin aufgewachsene Franz schreibt nach der Wende Reiseführer, was im Roman eher wie eine unnötige und unwichtige Tätigkeit erscheint. Das von "Mutti" hinterlassene Erbe ist so groß, dass er in Ruhe vor sich hin lamentieren kann. Abgesehen davon, stehen Franz' Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit in starkem Kontrast zur Tätigkeit, weil er seine Recherchen nämlich in Berlin tätigt und nicht an Ort und Stelle. Bei der Idee, irgendwo hinzufliegen, um an Originalschauplätzen für einen Reiseführer zu recherchieren, ist dem Protagonisten so unwohl wie einem Vegetarier bei der Idee, ein saftiges Steak serviert zu bekommen. Die paar wenigen Orte, die er gezwungenermaßen doch besuchen musste, sind ihm besonders schlimm in Erinnerung geblieben. Alle voller Mütter, Rom sowieso, aber auch Indien, wohin er während der Krebserkrankung der Mutter geflohen ist.
"Ich hatte genug vom Fluss gesehen, und wir machten uns auf den Weg Richtung Kali-Tempel und Verbrennungsstätte. Von Kali wusste ich vor allem, dass es eine Muttergöttin mit dämonisch-mörderischem Ruf war. Auf Abbildungen wurde sie vorzugsweise mit einer Kette aus Menschenschädeln dargestellt. Wenn man genauer hinsah, konnte man zuweilen auf ein winziges Kind entdecken, das an ihrem Ohr hing, manchmal auch wie ein Stäbchen im Loch ihres Ohrläppchens steckte."

So läuft der Großteil des Romans in Form von Rückblenden und Kindheitserinnerungen (der erzwungene Mittagsschlaf neben "Mutti" oder das immer wiederkehrende Fischrestaurant mit den fetten Kartoffeln) ab, denen sich Franz in einem Café am Savignyplatz sitzend, teilweise ironisch, teilweise voller Selbstmitleid, aber auch geistreich hingibt. Die Mutter immer im Mittelpunkt, seit ihrem Tod sogar noch stärker, weil ihr Ruf offenbar jetzt noch lauter ist als zuvor. Während Andere dem Ruf der Wildnis folgen, hört Franz nur den Ruf von "Mutti".

Sympathisch wird einem Franz eigentlich nur, wenn er einmal kurze Aussetzer seines Seelenkonflikts hat, wenn "Mutti" Pause macht; dass darunter seine Beziehungen zu Frauen leiden, ist vorhersehbar und gar nicht überraschend.

Hans-Ulrich Treichel hat seine Figur äußerst überzeugend gezeichnet. Irgendwie ist Franz in vielen Momenten auch eine absolute Figur unserer Zeit, ein Mensch, der etwas will, aber dann wieder auch nicht. In diesem Sinn ist der Roman in jeder Hinsicht gelungen: Charakterzeichnung, Prosa, Aussage und so weiter.
Ob man das auch wirklich lesen will, ist eine andere Frage ...

(Roland Freisitzer; 05/2015)


Hans-Ulrich Treichel: "Frühe Störung"
Suhrkamp, 2014. 189 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen