Stephan Thome: "Gegenspiel"


Andere Perspektive

"Gegenspiel", der neue Roman von Stephan Thome, ist in Wahrheit gewissermaßen eine Neuauflage seines vorigen Romans "Fliehkräfte". Hier, im neuen Roman, wird alles aus der Perspektive Marias erzählt. Maria Pereira ist die aus Portugal stammende Frau Hartmuts, dessen Sicht des Eheproblems bereits "Fliehkräfte" ausgemacht hat. Man fragt sich auch, ob die Idee, zwei über 400 Seiten lange Romane über die, global betrachtet, geringen Probleme des Philosophieprofessors und der Regieassistentin zu schreiben, wirklich zielführend ist. Bereits in "Fliehkräfte" meinte man diese Geschichte mehr als ausgereizt miterlebt zu haben.

Nun erfährt man, dass Maria sich just in den Momenten mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen gequält hat, in denen Hartmut sich auf seiner Reise quer durch Europa auf der Suche nach sich selbst mit der Antwort auf die Frage eines möglichen Neuanfangs gequält hat. Marias Schuld, wenn man so will, liegt in der Tatsache, dass sie, um sich endlich ihren Traum zu gönnen, aus dem Familienheim ausgezogen ist. Nach Berlin, wo sie sich dem Theater und ihren anderen Interessen widmen will. Was also nur allzu verständlich ist, vor allem, weil sich Maria bisher immer ihren Männern untergeordnet hat, nie ihre eigenen Interessen und Wünsche ausleben konnte.

Ein wenig klischeehaft mutet auch der Konflikt an, den die Frau austragen muss. Karriere und Erfolg, oder doch Heim, Familie und Glück. Hier darf Maria sogar wortwörtlich über das Problem spekulieren: "Jetzt habe ich eine Arbeit und bin allein. Ihm gegenüber versuche ich einen anderen Eindruck zu erwecken, aber es ist nicht ausgemacht, welches das bessere Leben ist. Ich hätte gerne beides. So wie er immer beides gehabt hat. Es ist ungerecht, dass ich wählen muss."
Bei der Lektüre solcher Sätze schlägt man unwillkürlich nach, um zu sehen, ob man wirklich einen brandneuen Roman eines dreiundvierzigjährigen Autors in den Händen hält.

Natürlich erfährt man, quasi hinter dem Ehegerüst, viel über die bundesdeutsche Geschichte der letzten vier Jahrzehnte, ja, auch über Portugal (da allerdings nur an der Oberfläche kratzend). Politische, soziale und kulturelle Entwicklungen machen den Hintergrundchor dieses Eheduetts aus, das da in aller Ruhe wie ein Bericht vor dem Leser ausgebreitet wird.
Dazu noch der Umstand der positiven Mittelmäßigkeit oder auch der Durchschnittlichkeit von Stephan Thomes Figuren, mit denen sich der Leser, anders als vielleicht mit diversen Figuren von beispielsweise Joseph Conrad, David Mitchell oder auch Peter Handke, wohl identifizieren kann.

Allerdings ist "Gegenspiel", auch wenn man jetzt meinen könnte, dass es sich um einen langweiligen, öden Schinken handelt, alles Andere als langweilig und öd. Dies liegt in erster Linie an der berauschend nüchternen Prosa Thomes und an seiner Fähigkeit, seine Figuren tun zu lassen, was sie wollen, ohne ihnen dabei nachhelfend unter die Arme zu greifen. Interessanterweise schafft es Stephan Thome sogar, gleichlautende Dialoge im neuen Kontext ganz anders wirken zu lassen, sodass man die Ehegeschichte des Paares wirklich sehr neu empfindet. Und die Dialoge gehören zu den besten, die wir aus der jüngeren deutschsprachigen Literatur kennen. Zusätzlich sind die Zeitsprünge hier zahlreicher und unvorhersehbarer, ja frischer als im Vorgängerroman. So bleibt man als Leser gespannt bei der Lektüre, liest verständnisvoll und gleichzeitig kopfschüttelnd von Dingen, die man höchstwahrscheinlich zum größten Teil aus eigener Erfahrung kennt.
Wer kennt nicht das Gefühl, weglaufen oder ausbrechen zu wollen, voller Entschlossenheit, jedoch gleichzeitig zu spüren, dass die Kraft dazu niemals reichen wird?

"Im Auto ist es stickig warm. Nach dem Trubel der Ankunftshalle sind sie zum ersten Mal allein, und anstatt loszufahren, legt Hartmut beide Hände auf das Lenkrad. In der Mittelkonsole stecken die Quittungen von Hotels und Tankstellen, auf der Rückbank liegen Kleidungsstücke, leere Wasserflaschen und sein schwarzer Kulturbeutel. 'Weißt Du noch', fragt sie, 'wie du vor ein paar Tagen am Telefon gesagt hast, wir seien die Parodie unserer selbst. Das geht mir nicht aus dem Kopf.' 'Warum Parodie? Wegen solcher Dinge wie gerade?'"

Um "Gegenspiel" zu genießen, muss man "Fliehkräfte" natürlich nicht gelesen haben, vieles ist aber sicherlich so intensiver und logischer als ohne Kenntnis des Vorgängers. Von Zeit zu Zeit hätte der Rezensent eine ähnliche Lösung wie zum Beispiel in Benjamin Steins Roman "Die Leinwand" bevorzugt, wo sich die beiden Erzählungen von außen nach innen aufeinander zu bewegen, einfach um schneller nachzuschlagen, zu vergleichen und abzustimmen. Andererseits passt es, so wie es ist, weil Stephan Thome doch eindeutig zwei Romane im Visier hatte und nicht nur einen. Am Ende fragt man sich ein wenig ironisch, ob nicht noch ein dritter Roman über diese Familie in Planung ist, der sich dann der Sicht der Tochter Philippa widmen wird, deren Studienbeginn ja gleichzeitig der Moment ist, an dem Maria mit der Verwirklichung ihrer Träume beginnt. Wenn nicht, ist es jedenfalls auch so schon gut mit Maria und Hartmut.

Unbedingte Empfehlung deshalb, weil Stephan Thome wirklich ausgezeichnet erzählen kann und weil diese Geschichte, die sich in Wahrheit irgendwo zwischen Peinlichkeit und Langeweile bewegt, sonst wahrscheinlich niemand so spannend erzählen hätte können. Bleibt die Hoffnung, dass Stephan Thome im nächsten Roman einem gänzlich anderen Thema Aufmerksamkeit schenkt.

(Roland Freisitzer; 06/2015)


Stephan Thome: "Gegenspiel"
Suhrkamp, 2015. 458 Seiten.
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Ein Buchtipp:

Benjamin Stein: "Die Leinwand"

Der Psychiater Amnon Zichroni besitzt die Fähigkeit, Erinnerungen anderer Menschen nachzuerleben. In Zürich begegnet er dem Geigenbauer Minsky, den er ermuntert, seine Kindheit in einem NS-Vernichtungslager schreibend zu verarbeiten. Das Buch wird ein Erfolg, doch beider Existenz steht auf dem Spiel, als der Journalist Jan Wechsler behauptet, Minskys Text sei reine Fiktion. Zehn Jahre später wird Wechsler, einem zum Judentum konvertierten Ost-Berliner, ein Koffer zugestellt, der ihm bei einer Reise nach Israel verloren gegangen sein soll. Doch er kann sich nicht erinnern, jemals dort gewesen zu sein ... (dtv)
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