Wilfried Steiner: "Die Anatomie der Träume"


Wilfried Steiner verliert seinen Protagonisten an Traumwelten und eine Therapeutin

In seinen gelungenen Vorgängerromanen "Der Weg nach Xanadu" und "Bacons Finsternis" standen die Welten der Dichtkunst und der Malerei im Blickpunkt, mit "Die Anatomie der Träume" ist Wilfried Steiner, geboren am 18. Dezember 1960, langjähriger künstlerischer Leiter des Linzer "Posthofs", beim Theater angekommen.
Linz und vor allem Wien sind diesmal die Schauplätze, wo sich zwar keine packende Handlung, jedoch immerhin ein netter Einblick in Bereiche der einstigen sowie der aktuellen Kulturszene, garniert mit einer - man darf es nicht verschweigen - leider kauzigen Beziehungsgeschichte, entwickelt.

Wieder begegnet man einem typischen Steiner-Protagonisten, nämlich dem unfassbar reaktionsschwachen (nobler formuliert: zurückhaltenden) Wiener Dramaturgen Konrad Pinetti, im Umgang mit Frauen ungelenk, in seinen Fantasien umso ausschweifender, der in ein vorhersehbares Miniaturabenteuer mit einer temperamentvollen rothaarigen Schriftstellerin (eine gegenwartsschaumgeborene Kleinformatausgabe von Alma Mahler-Werfel gar?) mit einem erst spät (aber wenig überraschend) enthüllten Brotberuf sowie in die Musikwelt (vor allem Gustav Mahlers) und gelegentlich seine individuelle Rauschdimension gezogen wird oder auch stolpert. Konrad Pinetti ist kurzgesagt ein Traummännlein, dessen Aventüren überwiegend nur in Gedanken stattfinden und verborgen im sicheren Souffleurkasten des inneren Monologs ihrer Entdeckung harren.

Zeitgenössische Wiedergänger, Frauentrios, eine geheime Wette, viel Lärm um nichts und ein halbgares Ende

Doch zunächst schlägt sich der tempo- und temperamentbefreite geschiedene Fünfzigjährige, (mit der Ex-Gattin wird freilich eine recht einseitige, lustlose Freundschaft aufrechterhalten), mit der Mammutaufgabe herum, Irene Augustins sperrigen Roman "Das Jahrhundert der Seele" für die Bühne zu adaptieren; ein Unterfangen, dem er anfangs skeptisch gegenübersteht, kann er doch mit Dr. Freuds Ansätzen erfahrungsgemäß wenig anfangen, und auch der auffallend spröde Schreibstil stachelt seine Kreativität nicht gerade an. So hat er außer dem Inhaltsverzeichnis des Buchs noch nichts gelesen, als es zum ersten Treffen mit der attraktiven Autorin, von der er zu wissen glaubt, sie sei die Geliebte seines Chefs, kommt. Der beeindruckenden Dame zuliebe versenkt sich Konrad Pinetti dann doch mit zunehmender Begeisterung und großem Aufwand in die Materie. Außerdem nimmt er (warum auch immer!) an den Proben für eine drastisch abgespeckte Version von Shakespeares "König Lear" teil und öffnet dem Leser solcherart Türen zu den Brettern, die die Welt bedeuten. Nicht selten befinden sich diese Bretter jedoch anscheinend in erster Linie vor Köpfen ...
Man erlebt also das Theaterensemble bei in allen Einzelheiten geschilderten Proben für "König Lear", wird hautnah Zeuge der Diskussionen mit dem Regisseur, verfolgt die detailfreudig ausgeführten kleinen Zwiste und großen Emotionen der Schauspieler, sieht ihre Rivalitäten, bemerkt die Budgetnöte, bekommt eine Ahnung von zeitgenössischen Inszenierungspraktiken, ist schlussendlich bei der kontrovers aufgenommenen Premiere dabei und liest danach die teils harschen Zeitungskritiken.

"Sie, Herr Professor Freud, erstreben nichts Geringeres als eine Anatomie der Träume. Und dabei vergessen Sie, dass etwas erst tot sein muss, bevor man es sezieren kann. Es sei denn, man praktiziert Vivisektion. In jedem Fall ist der Traum am Ende seiner Erforschung nicht mehr am Leben."
(S. 217)

Vorstehendes Zitat bringt das Hauptproblem des Romans auf den Punkt, denn die Konstruktion wirkt erstaunlich leblos, sie plätschert in belanglosen Episoden ohne Spannung und Höhepunkte in vorhersehbaren Bahnen dahin, die Figuren bleiben klischeebefrachtet und entwickeln kaum Tiefgang, das Gebilde wird nur durch inhaltliche "Transplantationen" am Leben erhalten. Insgesamt entsteht der Eindruck, der Autor habe sich dem Ansturm der Themenvielfalt nicht vollinhaltlich gewachsen gefühlt, und so ist das Ergebnis ein ambivalentes: weder Vollblutroman noch Vollblutsachbuch.

Der auffallend viel Raum einnehmende Roman im Roman ermöglichte es Wilfried Steiner jedoch immerhin, verhältnismäßig gefahrlos einmal einen anderen als seinen bisherigen Schreibstil auszuprobieren, nämlich einen bemerkenswert nüchternen. Ein interessanter Ansatz, aber zu weitschweifig ausgestaltet.
In Irene Augustins Roman steht wohl nicht zufällig Dr. Freud im Mittelpunkt, doch darüberhinaus erfährt man allerlei über die französischen Surrealisten, allen voran André Breton. Viele Kreise schließen sich, bestimmte Eigenschaften historischer Figuren und mythologischer Gestalten kehren in zeitgenössischem Gewand zurück auf die Bühne des kleinen zwischenmenschlichen Weltgeschehens, doch in "Die Anatomie der Träume" bleibt die magisch-visionäre Ebene auf oberflächliche Andeutungen, Konzerterlebnisse und Theaterszenen beschränkt, im Unterschied zu Wilfried Steiners früheren Romanen.

Aufgrund der gebotenen Mehrschichtenkonstruktion kann der Leser im günstigsten Fall im Verlauf der Lektüre in unterschiedliche Welten eintauchen, denn Passagen aus Irene Augustins Roman (über Mahler, Sigmund Freud und die französischen Surrealisten), teilweise schon für die Bühne umgeschrieben, und prall mit Theaterluft gefüllte Ereignisse auf und abseits der Bühne (Proben, Kantinenbegebenheiten, Premiere, ...) sowie aus dem Leben des Protagonisten wechseln sich in überschaubaren Kapiteln ab.
Bei weniger geneigter Betrachtungsweise ließe sich einwenden, Wilfried Steiner habe diesmal schlicht und ergreifend zu viel gewollt, (beispielsweise wirken die ausufernden Schilderungen rauschartiger Mahler-Hörerlebnisse stellenweise allzu bemüht, und die langatmigen Darstellungen der Proben für "Lear" ermüdend). Man könnte ergänzen, der Autor habe zwar emsig eine beeindruckende Fülle an Fakten über die französischen Surrealisten und Freud zusammengetragen, die man in einer derartigen Anekdotenmischung im Sachbuchstil allerdings wohl bereits anderswo findet, und die dem Lesefluss eher abträglich ist, zumal sich Sinn und Zweck der Exkurse nicht in entsprechendem Ausmaß erschließen.
Die eigentliche Handlung verliert sich aufgrund schwacher Figurenzeichnung und unspektakulärer Verläufe im Theaternebel.
Somit endet die überfrachtete Partie zwischen lesefreundlicher Unterhaltung und nüchternem Informationsgehalt mit einem wenig erbaulichen Unentschieden.

(kre; 03/2015)


Wilfried Steiner: "Die Anatomie der Träume"
Metroverlag, 2015. 272 Seiten.
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