Sjón: "Der Junge, den es nicht gab"


Auf schwarzen Flügeln in Geschichte(n) entschweben: Sjón haucht seinen Figuren mit Eis und Feuer Leben ein

Island, anno 2011 Gastland der "Frankfurter Buchmesse, bereichert alljährlich den Buchmarkt mit zahlreichen interessanten für den deutschsprachigen Raum übersetzten Titeln, und dass es sich dabei nicht zwangsläufig ausschließlich um Krimis handeln muss, beweist der Ausnahmeschriftsteller Sjón im Jahr 2015 eindrucksvoll ein weiteres Mal, nämlich mit seinem Roman "Der Junge, den es nicht gab".

Der am 27. August 1962 geborene Sjón, eigentlich Sigurjón Birgir Sigurðsson, erhielt für seinen Roman "Schattenfuchs" den "Literaturpreis des Nordischen Rates 2005". Als Multitalent schreibt er jedoch nicht nur (auffallend kurze) Romane, sondern auch Gedichte, Liedtexte (u.A. für die isländische Sängerin, Komponistin, Liedermacherin und Schauspielerin Björk) und war aufgrund seiner Texte (für Lars von Triers "Dancer in der Dark") bereits für den "Oscar" nominiert.

Daher liegt es nahe, dass der Kunstform Film sowie dem Kino in "Der Junge, den es nicht gab" große Bedeutung zukommt. Die Haupthandlung des überwiegend im Präsens geschriebenen Romans umfasst den Zeitraum Oktober bis Dezember 1918, den Abschluss bildet eine Art geheimnisvoller Epilog, angesiedelt im Juli 1929, über Generationen hinweg in die Gegenwart reichend.
Das Jahr 1918 war auch für Island ein bedeutsames: Der Vulkan Katla brach aus, ebenso die Spanische Grippe, und nach einer Volksabstimmung wurde das Land von Dänemark unabhängig.

Vor diesem historischen Hintergrund arrangiert Sjón in sprachlich schlicht gehaltenen, nichtsdestotrotz unmittelbar wuchtigen (und grandios von Betty Wahl übersetzten!) Szenen, die in ihrem bildgewaltigen Stil gelegentlich an "Die letzte Welt" von Christoph Ransmayr erinnern, die Geschichte von Máni Steinn (dt.: "Mondstein") Karlsson.
Der Sohn einer infolge ihrer Lepraerkrankung früh verstorbenen Mutter, im Hauptteil des Romans sechzehn Jahre alt, wohnt seit seinem sechsten Lebensjahr mit seiner Urgroßtante, Karmilla Maríusdóttir, einer eher derben, dennoch fürsorglichen Person, die außer Máni vor allem ihre Zigaretten liebt, in einer Dachkammer.
Einzelgänger, teilnahmslos, wortkarg, homosexuell, hat er die Schule im Alter von zwölf Jahren verlassen und treibt sich seither als Straßenjunge herum. Mit dem Geld, das er für sexuelle Dienstleistungen von Männern, "Kunden", erhält, bezahlt er in erster Linie seine häufigen Besuche in den beiden Lichtspielhäusern, die Reykjavík zu bieten hat, denn das Medium Film, zu jener Zeit noch ohne Tonspur, allerdings mit an Ort und Stelle von Musikern gespielter Begleitung, fasziniert den Jungen, regt seine Fantasie an und inspiriert auch seine Träume.

"Er weiß alles über sie, sie weiß dieses eine über ihn." (S. 102)
Gemeint ist die um seine Homosexualität wissende motorradfahrende Sólborg Guðbjörnsdóttir, vom Jungen fortan "Sóla Guðb-" genannt, für ihn so schön wie die französische Stummfilmschauspielerin und Filmschaffende Musidora: "Und als das Mädchen aufstand, um zu gehen, geschah es. Ihr Schatten fiel auf die Kinoleinwand, und in diesem Moment wurden sie eins, sie und die Figur dort im Film. Sie drehte sich noch einmal um, und der Lichtstrahl des Projektors zeichnete die Züge Musidoras auf ihr Gesicht.
Der Junge erstarrte in seinem Kinosessel. Sie glichen sich aufs Haar."
(S. 15)

Kinobesuche, "Kunden" und Stadtrundgänge prägen die Tage und Nächte des Jungen, bis mit der aus Kopenhagen eingelaufenen "Botia" die Spanische Grippe nach Reykjavík eingeschleppt wird.
Sjón schildert die Auswirkungen der Seuche auf die Menschen und den Alltag in der wie gelähmt wirkenden und ungewöhnlich stillen Stadt, die zunehmend einer Stummfilmkulisse gleicht. Und die Stummfilme bleiben bald tatsächlich stumm, weil die Spanische Grippe auch alle Musiker dahinrafft.
Der Chirurg Doktor Árnason sieht seine Stunde gekommen: Er wettert gegen das Kino, in seinen Augen nicht nur Ort der Übertragung von Krankheitserregern, sondern auch verantwortlich für das Auftreten unmoralischer Sehnsüchte und sogar von Homosexualität.

Máni Steinn erkrankt ebenfalls schwer, seine detailliert beschriebenen Fieberträume im Delirium erzeugen während der Lektüre imposantes "Kopfkino". Doch er überlebt die Influenza und ist bei Kriegsende wieder gesund. Er und Sóla Guðb- (natürlich als Chauffeurin!) begleiten Doktor Garibaldi Árnason tagelang bei Krankenbesuchen. Als die Grippewelle überstanden ist, sind im völlig verarmten Land Tausende Tote zu beklagen.

Mit der Ankunft der "Island Falk", eines Schiffs der dänischen Marine, an einem strahlend schönen Tag nimmt für Máni Steinn das Verhängnis seinen Lauf: Ausgerechnet in der Geburtsstunde des souveränen Staates Island, zur Zeit der Feierlichkeiten, vergnügt er sich mit einem dänischen Matrosen in einem unversperrten Lagerraum. Und während draußen die Nationalhymnen der Länder ertönen und die Festivitäten auf ihren Höhepunkt zusteuern, tun dies auch die beiden Männer, bis sie von (teils scheinheiligen) empörten Zeitgenossen in flagranti ertappt werden.
Um einen Skandal abzuwenden, wird Máni Steinn zunächst im höchsten Bauwerk Islands wie ein Schwerverbrecher eingesperrt (jedoch vermutlich auch zu seinem eigenen Schutz), und, nachdem einige ehrenwerte Männer über sein weiteres Schicksal entschieden haben, im Anschluss an eine von Sóla Guðb- unternommene vorübergehende Befreiungsaktion, in deren Verlauf die beiden auf das Dach des Gebäudes klettern und die Aussicht bewundern, mit einem ausländischen seinerzeitigen "Kunden" per Schiff nach London geschickt, wo ihn ein isländischer Theaterdichter unter seine Fittiche nehmen soll ...

Schnitt. Juli 1929. Eine in jeder Hinsicht freizügige englische Künstlergruppe, die auf ihrer Islandreise einen Film drehen will, trifft mit ihrem Dolmetscher M. Peter Carlson (... und wen erkennt man unweigerlich sofort in diesem Namenskostüm?) in Reykjavík ein. M. Peter Carlson, inzwischen als Assistent bei Filmaufnahmen tätig, streunt ein letztes Mal auf den Spuren seiner Vergangenheit durch die Stadt ...

Mehr, als dass sich Sjón zuguterletzt selbst in die Geschichte zaubert und ein riesengroßer schwarzer Schmetterling auf dem Fingerstumpf eines Leprakranken landet, wird über die mystische Gänsehautschlussszene an dieser Stelle nicht verraten!

"Der Junge, den es nicht gab" ist (trotz seiner Kürze) ein wahrhaft großer Roman, den man sich nicht entgehen lassen darf!

(kre; 04/2015)


Sjón: "Der Junge, den es nicht gab"
(Originaltitel "Mánasteinn. Drengurinn sem aldrei var til")
Aus dem Isländischen von Betty Wahl.
S. Fischer, 2015. 150 Seiten.
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"Schattenfuchs"

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Noch ein Buchtipp:

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