Ulrich Schacht: "Grimsey"
Eine Novelle
Über die Einsamkeit von
Inseln
Grimsey, eine kleine Insel ungefähr 40 Kilometer nördlich der
isländischen Küste, liegt direkt am Polarkreis und ist nicht unbedingt
ein Ort, den man in einem literarischen Text eines deutschsprachigen
Autors erwarten würde. Grimsey, aus dem Altnorwegischen, bedeutet "Auge
Gottes" und hat an die einhundert Einwohner. Auf Grimsey gibt es einen
kleinen Flughafen, eine Kirche, einen Leuchtturm und einen Hafen. Obwohl
die Novelle bereits vor ungefähr zehn Jahren geschrieben wurde, erschien
sie erst im Herbst 2015 beim Aufbau Verlag.
Ulrich Schachts Novelle kreist um Erinnerungen, die den Erzähler zurück
in die 60er- und 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts führen. Unter
Anderem an die Ostsee. Und natürlich in die DDR. Es ist leicht zu
erkennen, dass der Autor viele autobiografische Momente seines Lebens
subtil in den Text eingearbeitet hat.
Der Erzähler, ein Fotograf, kommt in Grimsey an und verbringt einen
halben Tag auf der Insel. Er nimmt den Leser mit auf einen Spaziergang
über die Insel, die einen kargen, spröden Reiz ausstrahlt. Es sind die
kleinen Dinge, die seine Aufmerksamkeit erregen. Eine ihn anlächelnde
Verkäuferin in einem winzigen Supermarkt ebenso wie ein Junge, der in
einer Regenlacke herumtollt. Es ist eine besonders reduziert schöne
Ästhetik, die diesen Text zu einem Sinnbild von Solitüde werden lassen.
Menschenleere Inseln, vor allem arktische, ziehen den Fotografen in
ihren Bann. Es sind aber auch die Bilder der Leere, des Todes, die diese
Anziehungskraft steuern, wie die symbolträchtigen sterbenden Fliegen in
der Kirche oder auch die vielen toten (und lebenden) Möwen, die diesen
Text zu einem der schönsten literarischen Erlebnisse des Jahres 2015
werden lassen.
Und so lösen die Wahrnehmungen auf Grimsey Erinnerungen des
Erzählers/Autors aus. Vom Himmel heruntergestürzte tote Vögel als
Sinnbild für die verlorenen oder nicht in Erfüllung gegangenen Träume?
Leere Patronen, die offenbar darüber informieren, dass die Vögel, ebenso
wie die Träume, durch Menschenhand zu Fall gebracht wurden. Der
spielende Junge als Erinnerung an die Kindheit des Autors, die er an der
Ostsee am Strand spielend verbracht hat, wo er mit Sand Inseln gebaut
hat, wissend, dass diese Inseln spätestens am nächsten Tag durch die See
weggeschwemmt sein würden. Oder auch ganz private Inseln, symbolisch für
einen privaten Gesprächskreis zu Zeiten der DDR, der durch Austreten von
Information zur Relegation des Professors geführt, dem Studenten Schacht
aber Verhöre der Stasi eingebracht hatte. All das wird so behutsam, so
unspektakulär aber klar durch den Text angedeutet, dass man auch als
nicht mit der Biografie Ulrich Schachts vertrauter Leser leicht
versteht, oder auch den Text ganz frei von politischen und
autobiografischen Assoziationen lesen könnte.
Wer hier einen wirklich misanthropischen Text vermutet, wird allerdings
eines Besseren belehrt, denn auf der Rückfahrt nach Island macht der
Erzähler die Bekanntschaft einer jungen Frau, deren Name ihn noch vor
ihrer Stupsnase fasziniert, und auf einer Reise zum
Franz-Josefs-Archipel begegnet er einem Ehepaar, das als Versorger einer
Wetterstation am Rande der Galaxie ein glückliches Leben führt. Umgeben
nur von unendlicher Stille und Natur.
Fast wie das Urpaar der Genesisgeschichte.
Ulrich Schachts Novelle "Grimsey" ist ein großartiges, stilles Buch, das
gleichzeitig kalt und warmherzig ist, getrieben von einer Sehnsucht, die
möglicherweise im ewigen Wunsch nach dem Glück
fundiert sein könnte. Gerne liest man den einen oder anderen Satz noch
einmal, denn leicht macht es Ulrich Schacht dem Leser nicht, was aber
auch nicht notwendig ist, denn die unstillbare Sehnsucht nach dem Glück
verlangt natürlich nach einem gewissen Einsatz. Und der wird in dieser
Novelle wirklich belohnt, wenn man nach 189 Seiten weiß, welches Glück
man soeben gehabt hat, zumindest dieses Buch gelesen zu haben.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 12/2015)
Ulrich Schacht: "Grimsey. Eine Novelle"
Aufbau, 2015. 189 Seiten.
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Ulrich Schacht wurde 1951 im
Frauengefängnis Hoheneck geboren und wuchs in Wismar auf. 1973 in
der DDR wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu sieben Jahren Freiheitsentzug
verurteilt, wurde er 1976 in die Bundesrepublik entlassen. Dort
arbeitete er als Feuilletonredakteur und Chefreporter Kultur für "Die
Welt" und "Welt am Sonntag". Schacht erhielt verschiedene Preise,
Auszeichnungen und Literaturstipendien, u. A. den "Theodor-Wolff-Preis",
den "Eichendorff-Preis", das "Calwer-Hermann-Hesse Stipendium". Seit
1998 lebt Ulrich Schacht als freier Autor in
Schweden.
Weitere Bücher des Autors:
"Vereister Sommer"
Auf der Suche nach meinem russischen Vater.
Es ist Sommer, Christa und Wolodja sind verliebt. Die Deutsche und der
sowjetische Offizier träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Bis sie
verraten werden. Jahrzehnte später spürt Ulrich Schacht der
verhängnisvollen Geschichte seiner Eltern
nach. Gegen den Widerstand seiner Mutter versucht er, seinen Vater zu
finden. An einem Frühlingstag steht er einem Mann gegenüber, von dem er
hoffte, dass er sein Vater sei.
Ein tief bewegendes Zeitzeugnis, exakt wie ein Geschichtsbuch,
anschaulich wie ein Roman.
"Aber ihr erster gemeinsamer Sommer war mitten im August schon zu
Ende gewesen: vereist, über Nacht. Einen nächsten würde es nicht mehr
geben, nie." (Aufbau)
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"Notre Dame" zur Rezension ...
"Über Schnee und
Geschichte. Notate"
Aufzeichnungen und Beobachtungen, Gemeinplätze entlarvend. Unterhaltsam
und bisweilen ätzend sind diese brillanten Fragmente und
Gedankensplitter Variationen über unsere Zeit im Spiegel der Ewigkeit,
über Niedertracht, Verlogenheit, Plattheit, Feigheit, Gier. (Matthes
& Seitz)
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