Salman Rushdie: "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte"
Ein Gegenwartsmärchen
"Wenn man eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählt, erzählt man zugleich eine Geschichte über die Gegenwart. Schildert man eine Phantasie, eine Geschichte über etwas Erfundenes, ist das auch eine Art, ein Märchen über das Faktische zu erzählen."
Dieses
aus dem Zusammenhang gerissene Zitat
aus seinem neuen Roman gilt gleichfalls für das Gesamtwerk des
Schriftstellers, man könnte allenfalls hinzufügen,
dass das Erzählte nicht selten auch in die Zukunft weist.
Überhaupt ist das Geschichtenerzählen an sich ein
Hauptthema
des Romans, der schon im
Titel auf die große orientalische
Erzähltradition, welcher Rushdie bei allen
wechselnden Inhalten ein treuer und glänzender Vertreter
geblieben ist, verweist: es geht unter anderem um die kleinen
Geschichten in den großen, um das Erzählen als
Lebensform, darum, dass Geschichten starke Wirkmacht besitzen, sogar
töten können, dass sie instrumentalisiert werden und
Wandlungen erfahren und in Variationen oder sonst veränderter
Form und womöglich unter konträrem Vorzeichen
wiederkehren können.
Zur großen Geschichte, zur Historie, wird in dem Buch kaum
konkret Bezug genommen, erstaunlicherweise, da es vornehmlich im New
York dieser unserer Gegenwart spielt. Der dies bewerkstelligende
Kunstgriff war, diese Gegenwart aus einer Zukunft von etwa 1000 Jahren,
in die nur Bruchstücke des Geschehenen
überliefert worden sind und die sich, wie man hört,
durch einen
reiferen Menschentypus auszeichnet, zu erzählen, wodurch man
bei dem Roman auch von so etwas wie einem Gegenwartsmärchen
sprechen kann.
Eine
Vorgeschichte gibt es auch, sogar eine
tatsächliche: im Jahre 1195 verlor der berühmte
andalusische Arzt, Filosof und höchst verdienstvolle
Aristotelesübersetzer Ibn Rushd (auch Averra oder
Averroës
genannt) die Gunst seines auf konservative Kräfte
Rücksicht nehmenden Kalifen, der den Freigeist aus
Córdoba verbannte, nur um ihn nach knapp drei Jahren wieder
zurückzuholen.
Erstaunliches aber, erfahren wir nun in dem Roman, widerfuhr dem
Gelehrten in dieser Zeit: eine blutjunge Frau, die er zeitlebens
für eine zwangsassimilierte Jüdin ohne
Angehörige hält, verliebt sich in ihn, zieht bei ihm
ein und gebiert ihm regelmäßig Kinder im Dreier-
oder Viererpack. Dunia, wie sie sich nennt, ist jedoch keine Geringere
als eine mächtige Dschinnya, eine Dschinnprinzessin, die sich
in
den Geist des bereits älteren Mannes verliebt hat, nach
Dschinnart indes auch dem Sex sehr zugetan ist, sich noch
lieber
als dieses allerdings von Ibn Rushd Geschichten erzählen
lässt oder ihm
beim Filosofieren lauscht. In diesen Tagen des Exils ist es besonders
Ibn
Rushds alte Auseinandersetzung mit dem Werk des persischen
Islamgelehrten al-Ghazali (Ibn Rushd hatte auf das 80 Jahre zuvor
geschriebene Buch des strenggläubigen Persers "Die
Inkohärenz der Filosofen"
mit dem eigenen Werk "Die Inkohärenz der Inkohärenz"
geantwortet), das ihn beschäftigt, so sehr, dass die beiden
großen Geister schließlich über Zeit und
Raum hinweg miteinander zu diskutieren und später sogar in die
Romanhandlung einzugreifen beginnen.
Der Dialog der beiden Denker ist freilich nur angedeutet, filosofischer
Rahmen des Romans, und verweist im übrigen auf ihr Werk.
Rushdie erweckt Ghazali zwar zum Leben, lässt ihn, dessen
Verdienst für das islamische Denken außer Frage
steht, jedoch nicht zu den Inkohärenzvorwürfen seines
jüngeren Kollegen antworten, im Streit der Beiden wird vor
allem der zwischen Vernunft und Glauben gesehen, Ghazali bei
aller Intelligenz als letzten Endes lebensfeindlicher
Sturschädel dargestellt.
Über Dschinne
wiederum
soll an
dieser Stelle nur gesagt werden, dass es sehr langlebige Wesen aus
Rauch und Feuer sind, die Körper nach Wunsch annehmen, auch
sonst mit manchen besonderen Fähigkeiten ausgestattet, aber
nicht sonderlich moralisch veranlagt und sehr launisch sind; besonders
Begegnungen mit Dunklen Dschinni gestalten sich für Menschen
wenig angenehm.
Gut achthundert Jahre nach den Ereignissen um Ibn Rushd öffnet
sich ein normalerweise verschlossener Spalt zwischen den Welten, der
die Dschinnenwelt und die irdische trennt, Dschinne dringen ein und
sorgen für Chaos und Verderben, zumal sie ungeniert einen
gerade in ihrem Reich tobenden Bürgerkrieg auch auf unserem
Planeten austragen. Zwei Dschinne führen außerdem
persönliche Agenden auf die Erde: Zumurrud Schah, der
Große, ein mächtiger Dunkler Dschinn, der dem alten
Ghazali noch etwas schuldet und daher in dessen Auftrag durch
Verbreitung von Gewalt und Schrecken die Gottesfurcht in den Menschen
stärken soll, und Dunia oder hier besser die Prinzessin von
Peristan oder die Himmelsfee oder die Fürstin des Lichts
genannt, welche versucht, die ihr liebgewordenen Menschen, im
Speziellen die vielen aus ihrer andalusischen
Affäre hervorgegangenen Urururururururururenkel plus oder
minus ein zwei ur zu schützen, indem sie sie aufspürt
und für die bevorstehende Zeit der Wirrnisse wappnet .
Nun ins New York der Gegenwart, seit etlichen Jahren schon Salman Rushdies Wohnsitz, die Hauptstadt der Welt, wie es pathetisch, der Vorliebe des Schriftstellers für den großen Ton entsprechend heißt, wo mehrere Kindeskinder der Dschinnya und des Filosofen leben. Die Stadt wird in doppelter Verzerrung, durch den tausendjährigen Abstand der Erzählung sowie durch das Eindringen des Fantastischen, erst schwerer Unwetter, eines über die Ufer tretenden Hudson, des gehäuften Auftretens der berüchtigten sogenannten Blitze aus heiterem Himmel, schließlich der lustigen Dschinne, gezeigt, gesehen und erlebt in erster Linie von zwei New Yorkern indischer Herkunft.
Jinendra (Jimmy) Kapoor lebt mit seiner chronisch kranken Mutter, die exotische Vögel auf einer Betonbrache hinter ihrem Haus züchtet und ihn mit einem Magermagermädchen mit großer Nase verheiraten will, in Quuu-weens. Vor dem grauen, freundinnenlosen Alltag, hervorragend repräsentiert durch seinen Cousin Nirmal, Chef von Steuerberaterbüro, der sich in seinem Streben nach Seriosität trotz seines lausigen Englisch in Normal umbenannt hat (kaum ein eingewanderter New Yorker trägt seinen ursprünglichen Namen) und in dessen Büro Jimmy seine Arbeitstage zubringt, flüchtet der junge Bursche in die Welt der Comics, erfindet seinen eigenen Helden, den dem tanzenden Shiva nachempfundenen Superhelden Natraj Hero, muss aber erfahren, dass seine Comicfigur nicht zum Helden der modernen Zeiten taugt, er selbst hingegen sehr wohl.
Ein bereits älterer Mann, Mr. Geronimo, Gärtner aus Leidenschaft und bis zu einem gewissen Grad, zumindest seine Kindheitserinnerungen an das alte Bombay betreffend, alter ego Rushdies, kommt im Laufe der Geschichte seiner Ururururur+-großmutter besonders nahe, seiner geliebten Erde jedoch beinahe abhanden, indem er wie viele andere Menschen von einem Dschinnfluch befallen wird, der wohl als symbolisch für den aus dem Gleichgewicht geratenen Zustand der Menschheit insgesamt gelesen werden darf: der Fluch führt entweder zu verstärkter Erdanziehungskraft und staucht die Leute mehr und mehr zusammen, oder sie heben langsam ab, sich zuerst nur Zentimeter über dem Boden bewegend, früher oder später, je nach Widerstandskraft des Betroffenen, auffahrend gen Himmel. Da sie bei dem Gärtner mit den Dschinn-Genen beachtlich ist und er des Fluches erstes Opfer, gerät er anfänglich in manche Situation, die durch die Reaktionen auf sein Leiden verschiedene Aspekte der New Yorker Mentalität in dazugehöriger Umgangssprache drastisch hervorzuheben hilft.
Zwar gibt es immerhin das Hoffnung gebende heroische Vorbild einer wahrheitsliebenden Bürgermeisterin, die meisten Reichen und Mächtigen werden von Rushdie jedoch ziemlich aufs Korn genommen, ihre Abgehobenheit und Arroganz anhand zahlreicher, zu nicht geringem Teil wohl wirklichen Personen entlehnter Beispiele zur Schau gestellt. Selbst von dem ziemlich intelligenten Präsidenten mit den etwas abstehenden Ohren heißt es, man hätte mehr von ihm erwartet als seine zunehmende Zuflucht zur Frase, während ein anderer, von einem Einflüstererdschinn besessener Präsident, der einer der größten Nichtregierungsorganisationen, von Angriffskriegen zum Erhalt des Wertes des Petrodollars spricht und stolz erwähnt, dass es mittlerweilen mehr Arbeitskräfte auf Sozialhilfe als tatsächlich in Vollzeitarbeit gäbe.
Von der guten Gelegenheit, die das Fantastische einem Geschichtenerzähler eröffnet, Dinge indirekt zu sagen, Kritik, eventuell Zensur zu umgehen, indem er Wirklichkeit in wohldosierten Bruchstücken hübsch bemäntelt einfügt, macht Rushdie reichlich Gebrauch. Selbst ein Satz wie "Er war sich darüber im Klaren, dass die Lage der Dinge in Wirklichkeit ganz anders war, als die meisten Leute glaubten." mag weniger harmlos sein, als er daherkommt, doch hüte man sich andererseits vor vorschnellen Interpretationen und dem Beanspruchen des Schriftstellers für die eigene Sache. Denn neben klaren Stellungnahmen - dem Abscheu vor religiösem Fanatismus und der Unterdrückung der Frau (über das Land A heißt es spöttisch, am liebsten hätten sie nach sämtlichen Frauenrechten auch die Frauen selbst verboten, sahen aber doch ein, dass dies nicht gut möglich war), dem Lobpreis eines den Herrlichkeiten der Erde verbundenen Lebens - gibt es der delfischen Mehrdeutigkeiten und Widersprüche genug in dem Roman: das angeblich hohe Ausmaß an Vernunft beispielsweise, das die künftigen Menschen, über die man sonst nicht sonderlich viel erfährt, mit Traumlosigkeit bezahlen, die nur angedeuteten filosofischen Fragen oder der archetypische Kampf von Gut und Böse, überhaupt die Moral. A propos - zum Schluss eine Variation der Sündenfallgeschichte:
"... Als
sie von dessen Früchten (des Baums der
Erkenntnis) aßen,
hatten sie auf einmal beide die Idee mit dem Schöpfergott,
einem Bestimmer über Gut und Böse, einem
Gärtnergott, der den Garten schuf, wo denn sonst kam der
Garten her, und sie hineingesetzt hatte wie wurzellose Pflanzen.
Und siehe da, sofort war da Gott,
und er zürnte. "Wie seid ihr auf die Idee mit mir gekommen?
Wer hat euch darum gebeten?", wollte er von ihnen wissen und warf sie
aus dem Garten, ausgerechnet in den Irak. "Keine gute Tat bleibt
ungestraft", sagte Eva zu Adam, und das sollte zum Leitspruch des
ganzen Menschengeschlechts werden."
(fritz; 12/2015)
Salman
Rushdie: "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte"
(Originaltitel "Two Years, Eight Months and Twenty-Eight Nights")
Übersetzt
von
Sigrid Ruschmeier.
C. Bertelsmann, 2015. ca. 352 Seiten.
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