François Roux: "Die Summe unseres Glücks"
Männerfreundschaften
vor der Kulisse des Untergangs
Der bisher in erster Linie als Filmemacher in Erscheinung getretene
François Roux, Jahrgang 1957, legte anno 2014 diese
Erstveröffentlichung vor, die ihm in Frankreich
den Ruf eines
"Deklinisten" eingebracht hat, da er sich in diesem Roman in erster
Linie mit dem Niedergang und dem Scheitern des Wohlfahrtsstaates
Frankreich
beschäftigt.
Mai 1981. François Mitterand ist Wahlsieger und neues
Staatsoberhaupt der Grande Nation. Jubel und Freude überall.
Bereits sein Antritt im Panthéon ist ein bewusst
gewähltes Zeichen, mit drei Blumen an den Gräbern von
Jean Moulin, Victor Schoelcher und Jean Jaurès, ein Zeichen
für die Menschlichkeit, die Résistance und die
Linke. Die nächsten Schritte: die Abschaffung der
Todesstrafe
und die Einführung der Rente mit 60. Die Popmusik
verändert sich, verbannt die folkloristischen Elemente, und
Philosophen wie Michel Foucault stehen plötzlich im
Mittelpunkt und bestimmen sogar in vielen Aspekten den Ton der Zeit.
Überall herrscht also Aufbruch, eine von
übermäßig großen Erwartungen
getragene Stimmung. In dieser befinden sich auch die vier Protagonisten
dieses Romans. In der Provinz haben sie soeben die Schule
abgeschlossen, und nach einer gemeinsamen Maturareise nach Griechenland
führt ihr weiterer Weg nach Paris, wo Einer in die Politik
geht, ein Anderer in die Wirtschaft, Einer wird Fotograf und der Vierte
wird Schauspieler.
Und so entfaltet sich vor den Augen des Lesers ein Entwicklungsroman
von epischer Breite. Man erlebt die ersten Erfolge, Positionierungen,
Hürden, Schwierigkeiten, aber letztendlich die erfolgreiche
Positionierung aller vier Protagonisten im Leben. All das bis 1984, wo
ein Sprung von 25 Jahren einsetzt, der den Leser in die
jüngste Vergangenheit führt.
2009. Die Zeit, die dem Wahlsieg des Sozialisten François
Hollande vorhergeht. Die Stimmung der vier Herren hat sich allerdings
grundlegend geändert. Verloren ist die Hoffnung, verloren ist
der Glaube daran, dass sich etwas bewegen kann. Das, was da passiert
ist, wird von François Roux Verfall des
öffentlichen Lebens genannt, der durch eine Art mentalen
Kapitalismus verschuldet ist, pures Profitdenken in allen Bereichen.
Nicht nur in der Wirtschaft. Hier auch der Ursprung des Originaltitels,
der sich am ehesten auch als "Das Glück im Zeichen des
Bruttosozialprodukts" übersetzen ließe. Die
Seifenblasen der Hoffnung sind zerplatzt, nicht einmal die Illusionen
bestehen noch. Dieser zweite Teil des Romans ist, nebenbei bemerkt,
auch der stärkere der beiden Teile, denen ein Epilog
angehängt ist.
Tod, Einsamkeit und Ausgebranntsein sind jene Faktoren, die das Leben
der nun fünfzigjährigen Freunde, von denen nur einer,
der Schauspieler,
ein einigermaßen zufriedenstellendes Leben
führt, bestimmen.
Eine sehr starke Konzentration auf das Eigene macht sich bemerkbar,
eine fast alles Andere ausschließende Sicht der Dinge. Als
wäre, was Frankreich damals ausmachte und noch jetzt zeichnet,
eine rein innerfranzösische Angelegenheit. Auch die
Protagonisten kommen, bis auf ihre Maturareise, fast nicht ins Ausland,
nur der Mann der Wirtschaft hat mehr Auslandsreisen hinter sich.
Vielleicht ist das ja auch eine bewusst gesetzte Kritik an der
Selbstbezogenheit der Franzosen, welcher der Autor damit
möglicherweise die Mitschuld am hier porträtierten
Niedergang gibt.
Was diesen Roman wirklich stark macht, ist, dass es François
Roux geschafft hat, die Lebenslinien seiner Protagonisten als
Spiegelbild des Niedergangs des Wohlfahrtsstaates
erscheinen zu lassen,
ohne dabei offensichtlich nachhelfen zu müssen. Er
erzählt größtenteils erfrischend frei, und
auch, wenn die eine oder andere Redewendung, vor allem in den
frühen Dialogen, im literarischen Kontext etwas
bemüht jugendlich frei wirkt, folgt man seiner Prosa
durchgehend gerne. Von Zeit zu Zeit fühlt man sich ein wenig
an einen der Romane von Tom Wolfe erinnert, der offensichtlich ein
literarisches Vorbild von François Roux zu sein scheint. In
vielerlei Hinsicht ist dieser Roman, was den Tonfall anbelangt, auch
möglicherweise viel mehr ein us-amerikanischer als ein
französischer. Vor allem in seinem ungezwungenen, richtig
unterhaltenden Duktus, einem erzählerischen Tsunami, von dem
man einfach mitgerissen wird.
Starke Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 11/2015)
François
Roux: "Die Summe unseres Glücks"
(Originaltitel "Le Bonheur national brut")
Übersetzt
von
Elsbeth Ranke.
Piper, 2015. 635 Seiten.
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