Ingrid Noll: "Der Mittagstisch"
Wieder
ein Frauen- und auch Familienkrimi - verkehrt und doch nicht glatt!
Seit sich ihr stets gut gelaunter, aber zwielichtiger
Lebensgefährte nach Amerika abgesetzt hat, ist die
Mittdreißigerin Nelly Alleinerzieherin. Als
Studienabbrecherin ohne Berufsperspektiven ist sie zudem meist knapp
bei Kasse. Ein Mittagstisch, den sie im Erdgeschoß ihres
ererbten Hauses einrichtet, bringt ihr täglich einige
berufstätige und somit zahlungsfähige Hungrige und
somit notwendiges und höchst willkommenes Geld ins
Portemonnaie. Mit Kompetenz an Herd und Serviertisch sowie dezenter
Gastlichkeit
im privaten Rahmen stopft sie zwei Kategorien von
Mäulern, die ihrer Gäste und die ihrer zwei Kinder.
Unter den Kostgängern sind treue Gefährten,
langjährige Freundinnen, attraktive Männer und
potentielle Nebenbuhlerinnen - eine Zusammenwürfelung, die zur
Familie werden könnte, würde nicht plötzlich
der Ex auftauchen, um Nellys Sohn nach North Dakota mitzunehmen ...
Wie alle anderen Noll-Romane ist auch "Der Mittagstisch" ein
Anti-Krimi, bei dem es nicht um die Aufklärung des Verbrechens
eines Bösewichts geht, sondern darum, mit einer liebenswerten
jungen Frau beim Vertuschen zweier Morde mitzufiebern. Die
Protagonistin ist überdies so lebensnah und sympathisch
beschrieben, dass man meinen könnte, dies könnte
Jedem - bei Ingrid Noll wohl eher: Jeder - passieren. Dabei geht die
fälschlicherweise oft als Krimi-Autorin beschriebene Ingrid
Noll mit Spuren des dennoch und zweifellos kriminellen Geschehens, mit
möglichen Mitwissern oder deren
Ausplaudermöglichkeiten überlegt und hinsichtlich
eines positiven Ausgangs - diesmal im Sinne der Straffreiheit - um wie
eine verkehrt herum arbeitende
Agatha
Christie. Da und dort setzt sie in den Handlungsfluss Details
und Bemerkungen, die Vorahnungen auslösen und dann doch wieder
für Überraschungen sorgen.
Mehr als bei früheren "Invert"-Krimis stehen diesmal die
Themen prekäre
Lebensverhältnisse und Familie, mehr noch die
Abwesenheit und Sehnsucht nach einer solchen, im Zentrum. Nelly leidet
sichtlich unter dem Allein- und Verlassensein, einem Zustand, zu deren
Veränderung es beim Mittagstisch verlockende Gelegenheiten
gibt; mindestens ebenso schlimm ist, dass die Kinder ohne Vater und in
materiell bescheidenen Verhältnissen aufwachsen
müssen. Der Generationenausgleich, der bei früheren
Noll-Büchern oft eher darin bestand, dass sich Alt und Jung
sich mit alterstypischen Stärken beim Verschwindenlassen von
menschlichen Überresten ergänzten, betrifft diesmal
auch die materielle Lebensführung: kein Urlaub ohne Geld und
Beisein der Großmutter! Die kinderlosen und im Beruf
erfolgreichen Mittagsgäste schwärmen von Fern- und
Luxusreisen und haben von all dem keine Ahnung ...
Auch sonst zeigt die spätberufene Autorin, die in wenigen
Tagen ihren 80. Geburtstag feiern wird, dass ihr am Hier und Jetzt
eines mitteleuropäischen Lebens nichts fremd ist: Sie
beschreibt süffisant das oft herablassende Verhalten von
Studierten gegenüber Handwerkern, die ein Können
aufweisen, das die Erstgenannten dringend benötigen und dann
schlussendlich teuer bezahlen müssen. Sie weiß um
das nahende Ende der Fruchtbarkeit einer Mittdreißigerin und
die Fallen von Schnellschüssen in einer dementsprechenden
Torschlusspanik. Und sie beschreibt anschaulich die nicht
öffentlich geäußerte, aber umso
verbissenere Ablehnung von Homosexualität und den
überbordenden, heute fast allgegenwärtigen
Generalverdacht gegenüber einem Leihopa und anderen
erwachsenen Männern, die Zeit und Aufmerksamkeit mit Kindern
einer anderen Familie teilen.
Der achtzigjährigen Ingrid Noll ist mit schelmischem
Seitenblick auf Verirrungen der gegenwärtigen Gesellschaft ein
weiterer Anti- oder "Invert"-Krimi gelungen: Pfiffige Frauen begehen
augenscheinlich notwendige Verbrechen, und die Männer stehen
daneben. Manchmal liegen sie auch.
(Wolfgang Moser; 09/2015)
Ingrid
Noll: "Der Mittagstisch"
Diogenes, 2015. 219 Seiten.
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Leseprobe:
(...) Es gibt Tage, da geht alles schief. Ich hatte zwar geglaubt,
alles Nötige für das Mittagessen eingekauft zu haben,
aber ausgerechnet Salz
sowie das von mir bevorzugte Traubenkernöl waren ausgegangen.
In aller Eile fuhr ich zum Supermarkt und kam dadurch in Zeitnot. Als
ich endlich wieder zurück war, stand der Kapitän
bereits vor der Haustür und meinte, es sei vielleicht gut,
wenn er auch einen Hausschlüssel habe, dann könne er
in solchen Fällen schon mal mit der Arbeit beginnen. Ich war
nervös und sagte nicht eben freundlich: "Du hältst
dich wohl für unentbehrlich!"
Er sagte nichts, war aber bestimmt gekränkt. Als wir
schließlich gemeinsam in der Küche arbeiteten und
ich den Kirschauflauf vorbereitete, ließ er ständig
seine abgedroschenen Seemannsgeschichten vom Stapel. Das Rezept
für Clafoutis, den es zum Nachtisch geben sollte, ist im
Grunde ganz einfach, man braucht nur Mehl, Quark, Zucker, Eier, Salz
und Milch zu verrühren und über die Kirschen in die Tarte-Form
zu
gießen. Unkonzentriert, wie ich war, vergaß ich
den Zucker und merkte es erst, als der Auflauf bereits fertig war und
der gefüllte Messbecher immer noch auf der Anrichte stand. Zum
zweiten Mal fuhr ich den armen Kapitän mit harschen Worten an
und gab ihm die Schuld für meine Fahrigkeit.
"Mit dir ist aber heute nicht gut Kirschen essen", meinte er in dem
vergeblichen Versuch, mich durch ein Wortspiel aufzuheitern.
Bereits in meiner Jugend hatte ich darunter gelitten, wenn meine Mutter
ihre schlechte Laune an ihren Lieben ausließ. Als mein Vater
noch lebte, war er der Leidtragende, später war ich es. Nun
verfiel ich womöglich in das gleiche Muster. In diesem Moment
klingelte es an der Tür, und Simon kam nach Hause. Er greinte
leise vor sich hin. "Ich hab' alle Matheaufgaben falsch!", schluchzte
er, dabei war Rechnen eigentlich seine Stärke. Wie konnte das
nur geschehen? "Der Opa hat's mir vielleicht falsch erklärt",
behauptete Simon, und der Kapitän bekam einen roten Kopf.
"Das kommt alles von deiner Sauferei!", brüllte ich ihn an,
als im gleichen Moment der erste Gast anklopfte. Unter Tränen
machte Simon die Tür auf und begrüßte den
Mann im blauen Overall, den er ein wenig anhimmelte. Der
unglückliche Junge ließ sich umarmen und
trösten. Doch schon schlängelte sich hinter Markus
die schreckliche Gretel herein. "Und wo ist Caro?", fragte sie
süffisant, und erst jetzt fiel mir auf, dass meine Tochter
schon längst zu Hause sein müsste. Vor Schreck fiel
mir die gläserne Kanne mit Eistee zu Boden, aus dem Backofen
qualmte es unheilverkündend.
Da tauchte Gott sei Dank Regine auf. "Bevor der Hauptgang anbrennt",
sagte sie, "und unsere wackere Nelly ganz ihre Contenance verliert,
werde ich die kleine Kröte suchen gehen."
Ich war ihr unendlich dankbar, als sie nach fünf Minuten meine
verloren geglaubte, überhaupt nicht zerknirschte Tochter samt
einer fremden Katze im Vorgarten eines Nachbarn entdeckte und beide bei
mir ablieferte.
Doch der verfluchte Tag war noch nicht zu Ende, wenn auch das Essen von
meinen Gästen höflich gelobt wurde. Ich machte drei
Kreuze, als ich schließlich allein war, kehrte die
Glasscherben zusammen und genehmigte mir einen Kaffee.
Leider stand ich immer noch unter Dampf und hätte beinahe nach
der fremden Katze getreten, die immer noch unter dem Tisch
saß und sich nicht hinausscheuchen lassen wollte.
Schließlich ging ich nach oben, um nach meinen Kindern zu
schauen.
Simon grübelte ganz allein über seinen Rechenaufgaben
und versuchte, seine Fehler zu begreifen. Ich wuschelte ihm
über den Lockenkopf und sah mich suchend nach Caro um. Auf dem
Wohnzimmersofa hielten zwei Personen Siesta, mein kleines
Mädchen eng an den mächtigen Bauch des
Kapitäns geschmiegt. Das war zu viel, ich explodierte.
"Kinderschänder!", brüllte ich. "Raus aus meinem
Haus, aber sofort!" (...)