Christiane Neudecker: "Sommernovelle"
Prägende
Tage mit Vögeln: Pragmatismus für Anfänger
Die erfrischend fotogene 1974 geborene Librettistin, Regisseurin und
Autorin Christiane Neudecker las - vielleicht erinnern Sie sich? - anno
2009 im Rahmen der "33. Tage der deutschsprachigen Literatur" in
Klagenfurt. In der "Zeit" vom 26. Juni 2009 bezeichnete der
Literaturkritiker David Hugendick ihren Beitrag "Wo viel Licht ist" als
"einen staksigen Text über den Ich-Verlust im
heutigen
Technologiezeitalter". Damals ging übrigens der
deutsche Neurologe Jens Petersen mit dem Hauptpreis, den er
für seinen Text "Bis dass der Tod" zuerkannt bekam, nach Hause.
Nun ist mit "Sommernovelle" ein Buch erschienen, das die Autorin ihrer
Mutter,
"der Wunderbaren", gewidmet hat.
Zwei fünfzehnjährige Freundinnen aus Bayern
verbringen die Pfingstferien 1989 auf einer Nordseeinsel. Sie haben
sich auf eine Anzeige hin gemeldet, in der Vogelfreunde für
freiwillige Arbeit in Professor Hansjörg Kupfers Vogelstation
gesucht wurden.
Eines der Mädchen, innerfamiliär "Panda" genannt, ist
die Icherzählerin; umweltbewusst bis zur Nervensäge,
vernarrt in ihre Markenschuhe; sie trägt die
Überbleibsel einer mit Henna gefärbten Protestfrisur
auf dem Kopf und viele Flausen im Kopf, verfügt über
eine ganz spezielle Aufnahmefähigkeit für
geschriebene Texte, die ihr auch dabei behilflich sein wird, den "Himmel
zu
lesen" und ist eine Bücherratte, genau wie ihre
Mutter. "Panda" hat sich aufgrund einiger unerfreulicher Vorkommnisse
von der katholischen Kirche abgewandt, beinahe alle ihre
Kleidungsstücke schwarz gefärbt, um die
Aufmerksamkeit eines älteren Schülers zu erregen
(natürlich erfolglos), ihr Vater hat Krebs.
Das andere Mädchen, Lotte, ist eine begabte Zeichnerin,
unverdorben und aufgeschlossen.
Es ist die Zeit des sauren Regens, der radioaktiven Verseuchung
aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl.
Müllberge,
Ölpest, Ozonloch, der Absturz der Raumfähre
"Challenger" - all das bietet reichlich Raum für jugendlich
ungestüme Weltverbesserer, die noch nicht mit
Widerständen und der Notwendigkeit von Kompromissen
konfrontiert waren.
"Es gab so viele Dinge, gegen die man etwas unternehmen
musste, manchmal wurde mir davon ganz schwindelig. Die
Umweltverschmutzung. Die Armut in der Dritten Welt, der Hunger. Das
Waldsterben, die Massentierhaltung, die Nazis. Der Treibhauseffekt.
Die
Atomwaffen,
der Kalte
Krieg. Die Sache mit dem Regenwald. Wo sollte man
denn da anfangen." (S. 65, 66)
Zwischen der Ankunft auf der Insel und der mehr oder weniger
heimlichen überstürzten Abreise liegen nur wenige
Tage, diese halten jedoch bedeutende Erfahrungen für die
Mädchen bereit.
In der Vogelstation befinden sich bei der Ankunft der beiden
Mädchen bereits fünf Personen, allerdings (noch)
nicht der Professor höchstpersönlich: das
unzertrennliche Männerduo
Hiller und Sebald, die gescheiterte Studentin Melanie, der fesche
Julian sowie das eher mürrische Fräulein Schmidt
(ehemalige Sekretärin und unverzagte Geliebte des
verheirateten Professors).
Besucher werden im Vogelgebiet umhergeführt, es
müssen Vögel und Eier gezählt sowie
entsprechende Datensammlungen angelegt werden. Zwischen dem
Beobachten der Vögel, der Kurgäste, der
Badegäste und der Bungee-Jumper bleibt
dennoch viel Zeit für Gespräche mit den Bewohnern der
Station. Mit dem ruhigen Hiller fühlt sich "Panda" verbunden,
schließlich riecht er wie ihr Vater und erkennt ihr Talent.
Er gibt ihr anhand einer Textzeile ein literarisches Rätsel
auf und wird es schlussendlich sein, der sie zum Schreiben ermutigt.
Glaubwürdig schreibt Neudecker aus der Perspektive einer im
Jahr 1989 Fünfzehnjährigen z.B. über
Heimweh, den ersten Kaffee, die Probleme damit, plötzlich
gesiezt zu werden, Schwierigkeiten mit den Eltern, die Bedeutung einer
Telefonzelle im Zeitalter vor dem Siegeszug der Mobiltelefone usw.
Auf Julians Abschiedsfest taut sogar das ansonsten unnahbare
Fräulein Schmidt kurz bei Klängen aus dem
Kassettenrekorder auf, die verliebte Lotte lässt sich mit
Julian ein, doch alles, was ihr nach dieser Nacht bleibt, ist eine
seiner abgetragenen Hosen. Er meldet sich nie wieder bei ihr; eine
erste Enttäuschung aus dem Erwachsenenkosmos. Melanies
Aussage, "Ist doch nur Sex" (S. 159), treibt Lotte
beinahe zur Verzweiflung.
Nach einem heftigen Wetterumschwung und dem Eintreffen des Professors
in der Station sind die unbeschwerten Zeiten endgültig
vorüber; die "Hausordnung" ist das Maß aller Dinge,
zumindest oberflächlich betrachtet. Der Professor hat sich
jahrelang mit dem möglichen Schlafen der Zugvögel
im
Flug befasst und ist selbst quasi auf der Insel gestrandet. Niemand
weiß, ob er mit seiner Vogelstation tatsächlich
relevante Daten irgendwohin liefert, oder ob ihm das Haus vorrangig als
Liebesnest dient. Die
Änderung der gesamten Atmosphäre wird regelrecht
greifbar, auch andere Bewohner der Station hegen kaum verhohlene
Abneigung gegenüber dem Professor. So kommt es denn auch zum
Eklat, als sich "Panda" in einer neuen Rolle auf Augenhöhe
präsentiert und den Professor mit der Frage nach der
Auswertung der gesammelten Daten in die Enge treibt und herausfordert
... Und als sie ihn nach dem ihrer Meinung nach erfundenen Vogel
"Plobbomon" fragt, enttarnt sich der Professor in ihren Augen
endgültig als Hochstapler; ein Urteil, das sie später
revidieren muss.
Ernüchtert und enttäuscht, wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen, treten die Mädchen in
aller Herrgottsfrühe heimlich den Heimweg an, nur bemerkt von
Hiller.
25 Jahre später kehrt die als Schriftstellerin tätige
Icherzählerin mit ihrer Mutter auf die Insel zurück,
um Spuren jener längst vergangenen Tage zu finden, und wird
mit teils überraschenden Erkenntnissen konfrontiert, denn die
Perspektive einer Erwachsenen unterscheidet sich doch deutlich von
jener einer Fünfzehnjährigen.
Als Roman für Erwachsene ist "Sommernovelle" nicht zu
bezeichnen, vielmehr als Jugendbuch. Über weite Strecken meint
man, ein mit Passagen aus Vogel- und Naturkundebüchern
ergiebiger gemachtes Tagebuch einer Jugendlichen zu lesen, die
wesentlich anspruchsvoller und interessanter wirkenden Nebenfiguren
werden bedauerlicherweise unter ihrem Wert gehandelt.
Die Icherzählerin ist zu jung und unerfahren, um den
erwachsenen Leser in ihre Sphäre zu ziehen. Ihre Weltsicht
bringt zwar jene Themen, die umweltbewusste Mädchen anno 1989
vermutlich bewegt haben, zur Sprache, aber dafür
hätte sich "Panda" nicht zwangsläufig auf eine
Nordseeinsel begeben müssen!
Dass die Autorin ansprechend schreiben kann, beweisen zahlreiche
wunderbar die Fauna und Flora abbildende Passagen und auch
stimmungsvolle Abschnitte wie beispielsweise dieser: "Die
Nacht war in Bewegung, Himmelskörper umliefen einander,
Gezeiten wechselten, Sternzeit zu Springzeit, Sonne und Mond reihten
sich auf und stemmten sich in das Kraftfeld der Erde. Wärme
wich Kälte, Luftmassen verschoben sich und in den
Außenthermometern zog sich das Quecksilber zusammen und sank.
Die Flut wuchs an zu sich immer höher aufschaukelnden Bergen
aus Wasser, ablandiger Wind
brach Zweige von frisch getränkten
Bäumen und Büschen. Alles wogte und schwang und bog
sich im Mondlicht, silbrige Sandkörner wehten von den
einsinkenden Dünen, der Schein des Leuchtturms umtastete die
Sinuskurve der Wellen." (S. 123)
"Sommernovelle" steht selbst an der Schwelle zwischen Unschuld und
Reife und überzeugt in erster Linie aufgrund der
hübschen Naturbeschreibungen. Dafür muss der Leser
jedoch auch Berichte aus der Erlebniswelt einer
Fünfzehnjährigen in Kauf nehmen, und die Bereitschaft
dazu ist wahrlich nicht jedem gegeben.
Ein Detail am Rande: Die im Klappentext erwähnte "Legende von
Rungholt" kommt eindeutig zu kurz!
(Felix; 05/2015)
Christiane
Neudecker: "Sommernovelle"
Luchterhand Literaturverlag, 2015. 187 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:
"Boxenstopp"
Die malerische Kulisse
Portugals. Das Dröhnen der Boliden auf der
Rennstrecke von Estoril. Und eine Frau, die mit einer
männerdominierten Wirtschaftswelt kollidiert.
Als erfolgreiche Fernsehmoderatorin wird sie häufig
für Werbeveranstaltungen gebucht. Diesmal soll sie gleich
einen ganzen Monat für die Präsentation eines
luxuriösen Sportwagens zur Verfügung stehen. Autos
haben sie nie interessiert, doch die Aussicht ist verlockend: Das neue
Modell wird auf der ehemaligen Formel 1-Rennstrecke im portugiesischen
Estoril den Vertragshändlern aus der ganzen Welt
vorgeführt. Sie akzeptiert. Und damit beginnt ein Sturz in die
Katakomben des Welthandels - dorthin, wo sich die Grenzen von Geld,
Gier,
echten Gefühlen und glitzernden Oberflächen
verwischen. Denn im Zentrum wirtschaftlicher Macht gelten eigene
Gesetze.
Christiane Neudecker, für ihre klare, atmosphärische
Prosa vielfach ausgezeichnet, gelang mit "Boxenstopp" ein literarischer
Abstecher in die Abgründe der Wirtschaftswelt, ins marode
Innere unserer Gesellschaft: poetisch, zornig, hochaktuell.
(Luchterhand Literaturverlag)
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Ein Buchtipp:
Hans
Peter Duerr: "Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen
Stadt"
Die sensationelle Entdeckung eines sagenumwobenen Ortes Rungholt
gehört, neben Vineta, zu jenen im Meer versunkenen
Städten,
die seit Jahrhunderten die Fantasie der
volkstümlichen Erzähler, Literaten und
Wissenschaftler beschäftigen. Von Rungholt stand bis zum
Beginn der Forschungen des Ethnologen Hans Peter Duerr nicht viel mehr
fest, als dass es in einer Sturmflut des Jahres 1362 versunken war. Der
Ethnologe erzählt in diesem Buch, wie er Rungholt lokalisierte
und zu welch unglaublicher Entdeckung seine Studenten und er gelangten:
Mitten im nordfriesischen Wattenmeer liegen die Überreste
einer vorgeschichtlichen Stadt, die später unter dem Namen
Rungholt zu einem Handelszentrum des Nordens aufstieg, bis sie in der
Marcellusnacht 1362 unterging.
Als Hans Peter Duerr im Sommer des Jahres 1992 mit seiner Familie ein
Ferienhaus auf der nordfriesischen Insel
Nordstrand
bezieht, sieht er an einer Wand das Faksimile der Landkarte des Husumer
Geografen Johannes Mejer: "Abriss Von Rungholte Und Seinen Kirchspielen
Anno 1240". Im Frühjahr 1994 mietet er ein altes Segelschiff,
mit dem er und 23 Studenten und Mitarbeiter der Universität
Bremen sich an der besagten Stelle im Watt zwischen Nordstrand und
Pellworm trockenfallen lassen. In den folgenden zehn Jahren setzen sie
ihre Recherchen fort. Sie stoßen unter Anderem auf die
Überbleibsel der aus Tuff- und Ziegelsteinen errichteten
Stiftskirche Rungholts. Und eines Tages finden sie sich mit den Resten
einer weit älteren Siedlung konfrontiert und machen einen
unerwarteten Fund, der den Schluss erlaubt, dass die
Nordseeküste - und damit Deutschland - nicht erst im 4.
Jahrhundert v. Chr. von Pytheas von Massilia, sondern bereits tausend
Jahre früher entdeckt worden ist. (Insel)
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