Marie NDiaye: "Ladivine"


Identität, Schuld und Einsamkeit

In einem bescheidenen Bistro in Bordeaux kellnert Clarisse, die die einzige und wahre Attraktion dieses Lokals ist. Auf sie und ihre Kompetenz ist Verlass. Das Lokal ist vor allem in der Mittagspause voll. Clarisse fühlt sich in ihrem Leben wohl, es läuft, sie wird geschätzt, und ihre Vergangenheit scheint längst vergessen zu sein.

Eines Tages, das Café hat sich nach der Mittagszeit bereits wieder geleert, betritt eine ältere schwarze Frau das Lokal. Clarisse, die seit vielen Jahren niemand mehr mit ihrem wirklichen Namen angesprochen hat, weiß, dass ihre Vergangenheit sie eingeholt hat. Ladivine ("die Göttliche") hat Malinka in einem Pariser Vorort alleine großgezogen, als Putzfrau arbeitend, ohne Luxus, von der Hand in den Mund aber mit viel Liebe. Sie erkennt, dass Malinka nicht nur fortgegangen ist, sondern sich auch eine neue Identität zugelegt hat.

Während Marie NDiaye, die ohne Übertreibung zu den interessantesten Schöpfern von Literatur gezählt werden darf, immer wieder über Menschen mit afrikanischer Herkunft schreibt, die auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Leben in Frankreich und Europa zurechtkommen, hat der Rezensent in keinem ihrer Romane je das Wort "Neger" (hier "Negerin", im Original wirklich "négresse") wahrgenommen. Die Verwendung in diesem Roman ist allerdings ein absolut genialer Kunstgriff, denn in jenem Moment, in dem man das Wort liest, entzieht die Autorin dem Leser den Boden unter den Füßen. Das Wort wird nicht einmal ausgesprochen, Clarisse sieht es im Blick ihrer Chefin. Ein Blick, der verachtend und erkennend gleichzeitig ist: die helle Hautfarbe von Clarisse, die wahrscheinlich vom unbekannten, weißen Vater stammt.

Ein wichtiges Merkmal dieses Romans ist das Verschweigen von Tatsachen. Clarisse verschweigt ihrem Mann die Mutter und ihre Herkunft, verschweigt ihm, dass ihre gemeinsame Tochter Ladivine nach ihrer Großmutter benannt ist. Ladivine lernt ihre gleichnamige Großmutter nie kennen. Aber auch Clarisses Mutter hat ihrer Tochter nie von ihrer Herkunft erzählt. Marie NDiaye nimmt das als Ausgangspunkt, um auf wundersam genialische Weise Fäden zu spinnen, die sie höchst virtuos zusammenführen wird. Niemand weiß alles, was dazu führt, dass man in vielen Punkten aneinander vorbei lebt. Leere und Einsamkeit als trübendes Resultat.

Ebenso faszinierend: der Einsatz von symbolischen Begleitern, herrenlosen Hunden, die sich immer wieder ins Geschehen einmischen. Auch hier, über die Generationen hinweg. Bei Clarissas Mutter, Clarissa und bei der kleinen Ladivine.

Die Autorin führt am Ende alles in der Geschichte der kleinen Ladivine zusammen, die zwanzig Jahre später in Berlin leben wird. Eine Parallele zum Leben der Autorin, die ebenfalls mittlerweile in Deutschland lebt. Obschon NDiaye gekonnt Parallelen zwischen den Generationen aufzeigt und die vielen Fäden auch zusammenkommen lässt, hat man als Leser nie das Gefühl, einen konstruierten Roman zu lesen. Der formal ausgezeichnet aufgebaute Roman bietet am Ende überraschende Auswege aus dem verheerenden Netz des Verschweigens. Unerbittlich und kompromisslos geht Marie NDiaye hier vor, schont weder Leser noch Figuren, denn die wenigen Momente des Glücks führen unausweichlich ins Verderben.

Dieser Roman der 1967 im französischen Pithiviers geborene Marie NDiaye ist ein literarisches Meisterwerk, das fast durchgehend von einer immensen Traurigkeit getragen wird. Einer Traurigkeit, die ihren Ursprung in der Einsamkeit des Menschen hat. Ihre Figurenzeichnung ist wundervoll tiefgehend und erinnert entfernt an die großen französischen Klassiker, vor allem im Bereich des Psychologischen. Stilistisch ebenso meisterhaft ist NDiayes Prosa, die offensichtlich von Claudia Kalscheuer ausgezeichnet übersetzt worden ist.

"Ladivine" ist ein unerbittliches, spannendes und literarisch forderndes Meisterwerk, vielleicht Marie NDiayes bisher eindrucksvollster Roman (nach "Drei starke Frauen").

(Roland Freisitzer; 01/2015)


Marie NDiaye: "Ladivine"
(Originaltitel "Ladivine")
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp, 2014. 445 Seiten.
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Marie NDiaye veröffentlichte mit 17 ihren ersten Roman; weitere Romane und Theaterstücke folgten. Die Autorin lebt seit 2007 mit ihrer Familie in Berlin.

Weitere Bücher der Autorin:

"Ein Tag zu lang"

Als der Lehrer Herman am letzten Tag des Urlaubs aufwacht, sind Frau und Kind verschwunden. Zugleich beherrscht statt des sonnigen Wetters dichter Nebel die Landschaft, macht alles unsichtbar. Herman macht sich in den nahe gelegenen Ort auf, um eine Verlustmeldung zu erstatten - und irrt lange Zeit durch diesen Ort: als der Fremde schlechthin.
Einen Tag zu lang blieb Herman im Ferienidyll - und schon ist ihm alles entrückt und unkenntlich. Die große, sprachmächtige Erzählerin Marie NDiaye schildert die melancholische Verlassenheit eines Menschen, dem alles fremd geworden ist: Mitmenschen, Umwelt, Familie. Auf sich selbst zurückgeworfen, erfindet Herman sich und die Welt neu: Ausgang offen. (Suhrkamp)
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"Selbstporträt in Grün"
Am Ufer der Garonne lebt eine Pariserin mit ihrem Mann und den Kindern. Der Fluss droht über die Ufer zu treten, man wartet auf das Hochwasser. Unterschwellige Strömungen bestimmen auch das Bewusstsein der Ich-Erzählerin. Geheimnisvolle Frauengestalten drängen sich in ihr Leben: eine grüngekleidete Frau, die außer ihr niemand sehen kann, die ehemals beste Freundin, die plötzlich zu ihrer Stiefmutter geworden ist, die eigene Mutter und der Fluss Garonne, zweifellos "vom Wesen her weiblich". Anhand dieser vieldeutigen Gestalten, die reale Menschen und Hirngespinste zugleich sind, entfaltet Marie NDiaye ihr "Selbstporträt in Grün".
Ein Roman von brillanter Kühnheit, der unsere Wahrnehmung der Welt auf poetische Weise in Frage stellt: Was man sieht, ohne es zu sehen, was man weiß, ohne es zu wissen, und wie man sich täuscht - diesen Unwägbarkeiten und Unzuverlässigkeiten des Bewusstseins verleiht Marie NDiaye auf einzigartige Weise Ausdruck. (Suhrkamp)
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"Mein Herz in der Enge"
 
Was haben die Leute in Bourdeaux plötzlich gegen Nadia und ihren Mann? Sie werden gemieden, ja sogar angegriffen. Ein unheimlicher Untermieter nistet sich bei ihnen ein. Die Nadia so vertraute Stadt hüllt sich in gespenstischen Nebel. Und auch Nadia wird sich auf ihr unerklärliche Weise fremd. Ist sie am Ende gar nicht die, die sie zu sein glaubt? In einem virtuosen Spiel mit dem Schrecken enthüllt Marie NDiaye das Unheimliche in uns selbst. (Suhrkamp)
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"Drei starke Frauen"
Ausgezeichnet mit dem "Prix Goncourt", avancierte Marie NDiayes "Drei starke Frauen" erst in Frankreich, dann in Deutschland in kürzester Zeit zum Verkaufsschlager.
Drei Lebensläufe werden zum Panorama weiblicher Stärke. So tragisch ihre Schicksale auch sind, die Frauen in diesem ergreifenden Roman geben nicht klein bei, sondern bewahren sich ihre Würde. Im entscheidenden Moment weigern sie sich, so zu handeln, wie es ihre Umgebung von ihnen verlangt. (Suhrkamp)
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"Rosie Carpe"
Eine junge Frau steht in der überfüllten Ankunftshalle des Flughafens von Pointe-à-Pitre, an ihrer Hand ein ängstlicher Junge. Die Frau wartet. Sie hat ein Leben hinter sich gelassen, fern in Frankreich, und wartet darauf, dass ein neues beginnt, jetzt und hier, im Tropenparadies Guadeloupe. "Und Lazare?" fragt das Kind. "Wo ist Lazare, Mama?" Eine Reisegruppe nach der anderen wird mit Blumen in Empfang genommen. Aber Lazare kommt nicht.
Marie NDiayes eigenwillige poetische Sprache zieht den Leser in den Sog einer geheimnisvollen, irritierenden Welt. Das erhoffte Paradies stellt sich nicht ein. Rosie Carpe muss erkennen, dass sie ihrer Lebenssituation nicht entfliehen und alte Beziehungen nicht einfach ablegen kann. Auf Guadeloupe trifft sie ihre Familie wieder. Die Begegnung mit den lieblosen Eltern schmerzt sie, die frühere innige Liebe zu ihrem Bruder Lazare ist verschwunden. Dann begegnet sie Lagrand, der Rosie als Einziger zu durchschauen scheint und ihr helfen will. Doch die Liebe zu Rosie zieht Lagrand mit hinein in einen Strudel aus Angst und Erinnern. (Suhrkamp)
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Leseprobe:

(...) Es war, dachte sie manchmal, als sähen sie sich klar und deutlich durch ihre Masken hindurch und wüßten zugleich, daß sie diese niemals abnehmen würden.
Denn die nackte Wahrheit konnte es nicht dulden, angeschaut zu werden.
"Ach, endlich, meine Tochter", säuselte Malinkas Mutter, und Clarisse Rivière ärgerte sich nicht mehr darüber, sie antwortete mit einem Lächeln in zwei Takten, wie sie es nirgendwo sonst zeigte, zugleich zärtlich und vorsichtig, breit und plötzlich zurückgenommen.
Sie umarmte ihre Mutter, die klein war, zierlich, wohlgestaltet, und die wie sie selbst feine Knochen, schmale Schultern und lange, dünne Arme hatte, ein Gesicht mit gedrängten, wenig hervortretenden Zügen, auf vollkommene und doch diskrete, kaum sichtbare Weise hübsch.
In der Gegend, wo Malinkas Mutter geboren war, wo Clarisse Rivière nie gewesen war und nie hinreisen würde, von der sie sich aber, verstohlen und voller Unbehagen, im Internet ein paar Bilder angeschaut hatte, hatten die Menschen die gleichen Züge, zart, im Gesicht zusammengezogen, als drohten sie sonst auseinanderzufallen, und die gleichen langen Arme, an der Schulter fast ebenso fein wie am Handgelenk.
Und daß ihre Mutter die körperlichen Merkmale einer ganzen Ahnenreihe geerbt und sie dann an ihre Tochter weitergegeben hatte (die Gesichtszüge, die Arme, die Langgliedrigkeit und, Gott sei Dank, nichts weiter), hatte Clarisse Rivière früher vor Zorn ganz benommen gemacht, denn wie sollte man auf Dauer davonkommen, wenn man derart gezeichnet war, wie vorgeben, nicht zu sein, was man nicht sein wollte, was nicht sein zu wollen man aber doch berechtigt war?
Doch auch der Zorn war von ihr abgefallen.
In all den Jahren war Clarisse Rivière nie entlarvt worden.
Und so war mit zunehmendem Alter auch der Zorn von ihr abgefallen.
Denn die Malinka in Clarisse war nie aufgespürt worden.
Ihre Mutter wohnte in einem einzigen, zum Teil von Clarisse Rivière bezahlten Zimmer im Erdgeschoß, das durch ein schwarzes Gitter am Fenster vor möglichen Einbrechern geschützt war.
Untadelig gepflegt, jeden Tag mit manischer Emsigkeit und Sorge abgestaubt und geputzt, war das Zimmer vollgestopft mit altmodischen, zusammengewürfelten Möbeln und Gegenständen, deren buntes, lackglänzendes, extravagantes Nebeneinander auf so engem Raum aber letztlich eine nicht gesuchte, sondern warmherzige Wunderlichkeit ausstrahlte, etwas beinahe Aberwitziges, worin sich Clarisse Rivière, wenn auch widerstrebend, ganz wohl fühlte.
Sie setzte sich in einen mit Prägesamt bezogenen Sessel, auf dessen Armlehnen Spitzendeckchen lagen, während ihre Mutter steif stehenblieb, voller Mißtrauen und Abwehr, die grundlos geworden waren, Überreste einer früheren Haltung, die durch die damaligen Umstände bedingt gewesen war, als Clarisse Rivière versucht hatte, sich ihrer Pflicht, ihrer Bestimmung zu entziehen - oh, es tat ihr weh, daran zurückzudenken: Sie hatte versucht, nichts mehr mit Malinkas Mutter zu tun zu haben, und das war sehr schlecht von ihr gewesen.
Ihre Mutter wußte, daß sie nicht mehr zu befürchten hatte, gemieden und verlassen zu werden, aber wenn Clarisse Rivière zu Besuch kam, verharrte sie in den ersten Momenten stets in der Haltung einer Wärterin, sie tat, als würde sie ihre Tochter bewachen, die ihr womöglich immer noch entkommen wollte, zog sich jedoch in Wirklichkeit auf eine sture, ungerechtfertigte Weigerung zurück, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, denn ihr lag daran, vor ihnen beiden als die dramatische Figur der auf ewig verletzten Würde dazustehen.
Das war nicht nötig, dachte Clarisse Rivière, das war nie nötig gewesen. (...)

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