Matthias Nawrat: "Die vielen Tode unseres Opas Jurek"
Eine
Geschichte Polens und Europas
"Die vielen Todes unseres Opas Jurek" ist bereits der dritte Roman des
Autors Matthias Nawrat, dessen frühere Romane entweder den
"Adelbert von Chamisso-Förderpreis" erhielten, oder gar
für den "Deutschen Buchpreis" nominiert waren.
Während "Unternehmer" und "Wir zwei allein" zwei relativ
knappe Romane sind, ist "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" deutlich
länger als die beiden Vorgänger zusammen. Auch nicht
verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Matthias Nawrat Opa Jurek mehr
oder weniger alle Grausamkeiten und Veränderungen des
kriegsverzerrten zwanzigsten
Jahrhunderts am eigenen Leib spüren lässt.
Natürlich stirbt Opa Jurek nur einen
wirklichen Tod, nämlich den gleich zu Beginn des Romans. Als
Initialzündung quasi, lässt der nahende Tod die
Enkelkinder aus Bamberg anreisen. Am Totenbett versprechen sie, ab und
zu an den Opa zu denken, ihn und sein Leben in Erinnerung zu behalten
und auch nichts zu vergessen. Interessanterweise sind die Enkel eine
Art gemeinschaftlicher mehrstimmiger Erzähler, ein
erzählendes "Wir". Das ist zwar eine meist sehr gelungene
Erzählvariante, führt aber auch zu Situationen, in
denen so der Drang, diesem Text zu folgen, etwas verloren geht.
Bereits als Jugendlicher, nach der Sperrstunde im besetzten Warschau,
entkommt Jurek nur knapp dem Tod durch Wehrmachtsoldaten, die ihm den
Wehrmachtsgruß nur zweifelnd abnehmen. Hier erlebt er zum
ersten Mal das Gefühl, bereits quasi tot gewesen zu sein, ein
merkwürdiges Gefühl, so der Protagonist. Und so geht
es munter weiter, in bewusst einfach, etwas naiv erzählter
Weise erinnern sich die Enkelkinder an die wichtigsten Momente im Leben
des Großvaters.
Und das führt durch die "weltberühmte" Ortschaft
Oświęcim, in der er als Zwangsarbeiter Hunger und Tod kennenlernt, und
über Opole, die vom Krieg zerstörte Stadt auf dem
Mond, zurück in die Dunkelheit einer Zelle. Der Opa wird
Direktor eines Warenhauses und erfolgreicher
Delikatessenverkäufer, heiratet und gründet eine
Familie.
Die Tochter macht es ihm mit ihrer Liebe zu einem
regimekritischen Delinquenten auch nicht leichter, noch dazu, weil
dieser sie nach Kanada entführen
will. Das und noch viel mehr
erlebt Opa Jurek in seinem langen Leben.
Diese Familiengeschichte, die teilweise höchstwahrscheinlich
starke autobiografische Züge trägt, ist
natürlich äußerst verfahren und fast
verzwickt, wird dem Leser von Matthias Nawrat in bewusst einfach
gehaltener Prosa nähergebracht. Selbstverständlich
steht auch die Geschichte Polens, das ungewollt vom Faschismus in den
Kommunismus schlittert, im Vordergrund.
Matthias Nawrats Prosa ist ein ziemlich starker Kunstgriff, da er
versucht, diesen Roman mehr oder weniger mit einem leicht zwinkernden
Auge zu erzählen. Statt zu weinen, statt die Gräuel
drastisch zu schildern, wird der Leser vehement dazu aufgefordert, zu
lachen. Ein Lachen allerdings, das einem schnell im Hals stecken
bleiben kann.
"Und so kann man insgesamt behaupten, dass diese Zeit nicht
die schönste im Leben unsere Opas Jurek gewesen ist, und das
Schrecklichste war am Ende noch der Hunger." (Anm.: Ein
Kommentar des erzählenden "Wir" über die Zeit in
Auschwitz.)
Die Beklemmung, die sich durch besonders naiv geschilderte Szenen
ergibt, wie beispielsweise Szenen aus Auschwitz, wo bereits aus
Aufsehern "höher gestellte Mitarbeiter"
werden und ihre Gewalt und Überheblichkeit ebenso naiv
dargestellt wird, ist eindringlich und meist überzeugend.
"Diese höher gestellten Mitarbeiter hatten beim
Aufbau der zusätzlichen Unterbringungsanlagen in einem hinter
einem Wäldchen gelegenen Areal stets einen besserwisserischen
Spruch auf den Lippen und wussten diesen nicht selten auch mit einer
gewissen körperlichen Präsenz und sogar mit Hilfe
stockartiger Utensilien aller Art zu untermalen, was das Errichten von
nagelneuen Reihenhäuschen zwar, oberflächlich
betrachtet, beschleunigte, der Arbeitsmoral eines jeden niedriger
gestellten Beteiligten aber unter dem Strich nicht gerade
zuträglich war."
Die Verharmlosung der Abscheulichkeiten und Gräueltaten dieser
Zeit wird so zu einer Art Groteske, die sich allerdings immer wieder in
den Gefahren eben dieser Gattung verrennt und am durchgehenden Duktus
dieses Buches hängenbleibt. Die Glaubwürdigkeit
dieses natürlich riskanten Versuchs leidet dann darunter, wenn
die kleinen Gaunereien oder die Geschäftsanbahnungen des Opas
in gleicher Weise beschrieben werden. Dann driftet die
Erzählung in Anekdoten, Witzchen und einem beliebig
unterhaltenden Plauderton auseinander und zerfällt, was am
Ende dann doch traurig stimmt, weil der Roman eigentlich alle
Voraussetzungen für einen wirklich grandiosen Roman gehabt
hätte.
Einerseits will er zu viel in zu wenigen Seiten, andererseits
stört er sich selbst in der Konsequenz der eisern
durchgehaltenen Erzählidee, die diese Geschichte dann doch
leider zu Fall bringt.
(Roland Freisitzer; 10/2015)
Matthias
Nawrat: "Die vielen Tode unseres Opas Jurek"
Rowohlt, 2015. 407 Seiten.
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Matthias
Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, siedelte als
Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg um. Er studierte
in Freiburg und Heidelberg Biologie,
danach am Schweizer
Literaturinstitut in Biel. Für seinen Debütroman "Wir
zwei allein" (2012) erhielt er u.A. den "Adalbert von
Chamisso-Förderpreis". Sein Roman "Unternehmer" (2014),
euphorisch besprochen und für den "Deutschen Buchpreis"
nominiert, wurde u.A. mit dem "Kelag-Preis" und dem
"Bayern-2-Wortspiele-Preis" ausgezeichnet. Matthias Nawrat lebt in
Berlin.
Noch ein Lektüretipp:
Grigori Kanowitsch: "Kaddisch für mein Schtetl"
Ein wunderschöner Familienroman voller Poesie und
Altersweisheit über die letzten zwanzig Jahre des Schtetls
in
Osteuropa. Ein anrührendes und sehr poetisches Denkmal
für ein verschwundenes Stück jüdischen
Lebens.
Der junge Schneider Schlejmke wird für zwei Jahre in die
litauische Armee eingezogen, doch seine Liebe zu Chenka
überdauert diese Zeit. Schließlich setzt er sich
gegen seine strenge Mutter Rocha durch und darf seine Chenka heiraten.
Ihr gemeinsamer Sohn Girschele - Grigori Kanowitsch selbst -
erzählt die Geschichte seiner Familie in den zwanziger und
dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die zugleich die
Geschichte vom Untergang des Schtetls in Osteuropa ist. Ein
warmherziger, nostalgischer Blick zurück. Trotz der
Umwälzungen und Bedrohungen der Zeit nicht im Zorn, sondern
mit viel Sympathie und ein wenig Wehmut erzählt.
"Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, weil ich
russisch schreibe, kein russischer Schriftsteller, weil ich
über Juden schreibe, und kein litauischer Schriftsteller, weil
ich nicht auf Litauisch schreibe." Grigori Kanowitsch (Aufbau)
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