Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst"
Erinnerung und Einsamkeit
"Kindheitserinnerungen sind oft kleine Details, die sich abheben vor dem Nichts."
Er ist ein seltsamer Mensch, der Held in dem neuesten Roman des Literaturnobelpreisträgers 2014, aus dessen Perspektive durchgängig erzählt wird. Schriftsteller und etwa gleich alt wie sein Schöpfer, Jean Daragane mit Namen, lebt er zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung. Zu Beginn des Buches buchstäblich, denn ein äußerst heißer Sommer lässt die Einwohner, wo sie es können, in den eigenen vier Wänden verharren, zurückgezogen vor allem in Bezug auf die große selbstgewählte Einsamkeit, in welcher Daragane lebt, indem er keine Freundschaften pflegt und Passanten tunlichst in die Augen zu sehen vermeidet, um ja nicht Anlass zu einer wie auch immer gearteten Kontaktaufnahme zu bieten. Als Schriftsteller zeigt er Scheu, Bekannte zu Romanhelden zu machen, da ihm dies wie eine Zerstörung vorkommen würde, sein Ideal wäre ein Roman mit Bäumen und Blumen als Hauptfiguren. Alles in allem scheint ihm die Einsamkeit jedenfalls gutzutun, was die verwendete Sprache, der unaufgeregte Rhythmus, die kurzen, klaren Sätze, die innere Ruhe der Zeilen und die gesteigerte Sensibilität Daraganes gegenüber den Dingen, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt, deutlich machen. Freilich, es hängt letztlich von der Stimmung ab, ob es an manchen Tagen nicht vielleicht doch eine angenehme Vorstellung ist, Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen, und interessanterweise führen besonders leichte, schwerelose Tage zu dem Gefühl, hinter der nächsten Ecke würde das Abenteuer warten.
Schließlich ist es aber ein unangenehmer, mit einem Insektenstich verglichener, ihn aus dem Halbschlaf reißender Telefonanruf einer als weich und bedrohlich empfundenen Männerstimme, der ihn aufstört und ein Abenteuer einläutet. Ein gewisser Ottolini, kaum wahrnehmbarer südlicher Akzent, hat Daraganes Adressbuch, in welchem allerdings ohnehin keine relevanten Nummern mehr notiert waren, gefunden und möchte es dem Besitzer zurückgeben. So geschieht es am nächsten Tag in einem Café, Ottolini, der in Begleitung einer jüngeren, ihm anscheinend gehorchenden Frau namens Chantal ("Pariser Akzent, wenn das noch irgendwas bedeutet") erscheint, bittet ihn dabei, sich doch an einen bestimmten Namen aus dem Adressbüchlein, mit dem Daragane zunächst nichts mehr anzufangen weiß, zu erinnern, da dieser in einen alten Mordfall verwickelt sei und er, Ottolini, an einem Buch darüber schreibe. Daragane zeigt sich zunächst abweisend und zögerlich, zumal er Ottolini als aufdringlich und bedrohlich empfindet, als ihm dann jedoch Chantal diverses kopiertes Polizeimaterial über den Fall, den Mord an einer Nachtklubtänzerin 1951, vor mehr als einem halben Jahrhundert, zukommen lässt, vertieft er sich in die alte Geschichte.
Das Eindringen in die Materie hat allerdings nichts mehr mit Ottolinis Absichten zu tun, gehorcht vielmehr eigenen, aus den Tiefen der Psyche stammenden Regeln. Denn nicht nur kann Daragane mittlerweilen besagten Namen wieder mit einer konkreten Person verbinden, er stößt in den Polizeakten auf weitere bekannte Namen, allen voran eine gewisse Annie Astrand, Freundin der Ermordeten und, weit wichtiger, für etwa ein Jahr lang eine Art Ersatzmutter für den sechs- bis siebenjährigen Knaben Daragane oder besser Jean. Die solcherart ausgelösten Erinnerungen umfassen gut die Hälfte des Romans, führen teils in besagte Kindheitszeit, teils in die Zeit von Anfang Zwanzig, als Daragane manche dieser alten Bekannten noch einmal getroffen und sie das eine oder andere, und immer vorsichtig, über seine Kindheit gefragt hat, einer eigentümlichen Kindheit mit hellen Momenten, aber auch viel Schatten: als jemand in so einer Erinnerung die Worte "zu dir nach Hause" verwendet, weiß der zwanzigjährige Daragane gar nicht, was damit gemeint sein könnte. Mit einer existenziellen und, obwohl sie noch weiter zurückweist, wohl prägenden Erinnerung schließt das Buch.
Dass Erinnerungsarbeit, der Wunsch, "der kalten Nacht des Vergessens" Wertvolles zu entreißen und gebundene Energie zu befreien, für einen Schriftsteller eine beherrschende Rolle einnehmen kann, ist nichts Außergewöhnliches, Marcel Proust kommt da naheliegenderweise in den Sinn oder Per Olof Enquist, der das schreibende Durchdringen der dunklen Stellen seiner Vergangenheit hochemotional und mit geradezu religiöser Inbrunst betreibt. Ganz anders Patrick Modiano, der bei seinem Held weitgehend auf den Ausdruck starker Gefühle verzichtet, sie auf das Fundamentale, Sym- und Antipathie, Wohlgefallen und Missbehagen, reduziert. In Verbund mit der spärlichen, wenig spektakulären Handlung mag sich da im Leser bisweilen der Wunsch nach mehr Kurzweil regen, doch scheint auch in der Reduktion die Echtheit der Erfahrung durch und wird dem Leser in der exakten Beschreibung des Äußeren viel Raum für Ergänzungen gelassen: der Emotionen, wenn Feinheiten im Mienenspiel und Tonfall der Personen wiedergegeben werden, des Aufruhrs, wenn dem Erzähler beispielsweise ein gedachtes Schimpfwort entfährt (auch wenn er es gleich als mögliches Vorurteil zurücknimmt), des Ausnahmezustands, wenn eine einsetzende Erinnerung rein körperlich als "eine Art Schwindel, ein Kribbeln an den Haarwurzeln" beschrieben wird, des Mysteriums, wenn in Parallelen von Gegenwart und Vergangenheit eine der Zeit nicht unterworfene Dimension fühlbar wird.
(fritz; 07/2015)
Patrick
Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst"
(Originaltitel "Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier")
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Hanser, 2015. 160 Seiten.
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