Eduardo Mendoza: "Der Walfisch"
"Moby
Dick, der Riesenwal, war in Barcelona zur
Verstörung der Bösen und Erbauung der Guten,
vorgestern ist er abgehauen, und ich mit ihm." (S.
124)
Man schreibt das Jahr 1952, Barcelona rüstet sich für
die Abhaltung des Eucharistischen Weltkongresses. Die Stadt wird
herausgeputzt, ihre Bewohner sind in heller Aufregung wegen des
Ereignisses. Und weil zahlreiche kirchliche
Würdenträger zu beherbergen sind, Hotelzimmer jedoch
Mangelware, wird der mittelamerikanische Bischof von San
José de Quahuicha, Fulgencio Putucàs, bei einem
gutsituierten Onkel des damals noch schulpflichtigen
Ich-Erzählers, Agustín Voralcamps, und dessen
Gattin, Tante Conchita,
einquartiert.
Aus der Perspektive des Erzählers hat der Leser bis zu jenem
Zeitpunkt bereits unterhaltsame Einblicke in die
Lebensverhältnisse gewonnen und die Familienmitglieder sowie
deren Beziehungen untereinander kennengelernt,
insbesondere die frömmelnde Tante Conchita, eine auffallend
praktisch veranlagte Frau, und in gewisser Weise soziales Oberhaupt der
Sippe.
Alles verläuft nach Plan, prunkvolle Prozessionen und Feiern
erfreuen die Barceloneser, der Bischof erweist sich allerdings im
familiären Umgang als kaum präsent, ein wenig
spröde und distanziert. Mit einem Schlag ändern sich
die Verhältnisse: Eines Morgens erreicht ihn die Meldung von
einem politischen Umsturz in seiner Heimat, er ist über Nacht
zur verfolgten Person geworden. Nun gibt es kein Zurück mehr
für ihn, er sitzt bis auf Weiteres in der Fremde fest. Seines
Bleibens im noblen Haushalt ist allerdings nicht länger, man
war dort schließlich nur auf einen ehrenwerten, mittlerweile
allerdings womöglich politisch missliebigen Kurzzeitgast
eingestellt, will jedoch keinesfalls unmenschlich wirken (man
weiß ja nie!), und so bezieht der Bischof nach einer
Unterredung Tante Conchitas mit ihrer Schwägerin kurzerhand
bei der Familie des Ich-Erzählers ein bescheidenes
Kämmerlein, wo er nach und nach eine wundersame Wandlung
durchläuft, während er mit schwindender Hoffnung auf
eine Klärung seines offiziellen Status wartet.
Man fragt sich als Leser, ob es der Wahrheit entspricht, dass die
katholische Kirche in solchen Fällen nicht
unverzüglich für Kost und Quartier eines Bischofs
sorgt und sich in weiterer Folge auch nicht sonderlich um eine
Lösung der anfallenden Probleme bemüht.
Der neue Mitbewohner legt bald die kirchlichen Gewänder ab,
deponiert seine Insignien im Tresor des Onkels und führt nach
kurzer Zeit ein völlig anderes Leben als zuvor. Ausgemusterte
Kleidung des Onkels wird umgeschneidert, Don Fulgencio, oder bald auch
einfach nur noch Fulgencio, macht sich fortan als guter Geist im
Haushalt nützlich und freundet sich mit dem
Ich-Erzähler an, unternimmt viel mit ihm, entdeckt
beispielsweise seine Leidenschaft für das Kino und berichtet
hin und wieder von seiner Heimat. Ein weiterer positiver Nebeneffekt
der neuen Wohngemeinschaft ist, dass der ruinöse Alkoholismus
des Hausherrn - jedoch nur vorerst - ein wenig gemildert wird.
Der bisweilen altklug anmutende Ich-Erzähler verbringt die
Sommerferien bei seinem wohlhabenden Onkel und seiner Tante Conchita in
deren Haus am Meer und erlebt dort erste Liebesverwirrungen.
Nach Barcelona zurückgekehrt, erfährt er von seiner
Mutter, der Bischof sei, verführt vom Vater, zwischenzeitig
ebenfalls dem Alkohol verfallen und zusehends verroht, weswegen er auf
ihr Betreiben ausgezogen sei. Auch zu einem Eklat mit dem
örtlichen Diakon sei es aufgrund seines Benehmens gekommen.
Es beginnt eine schwierige Phase für den
Ich-Erzähler, der die Zeit der Freundschaft mit Fulgencio als "das
Ende meiner Kindheit" (S. 86) bezeichnet. Er zieht mit
Freunden durch Lokale, betrinkt sich, vernachlässigt die
Schule, ist aufmüpfig und sehnt sich nach einer Freundin. Doch
nach einer durchzechten Nacht erkennt er: "Erschrocken war
ich darüber, in welches Hochgefühl der Alkohol mich
versetzt hatte, ich spürte, dass die Verlockung groß
war, auf diese Weise alle Sorgen loszuwerden, und dass ich, wenn ich
nicht aufpasste, so enden würde wie mein Vater. Diese
Erkenntnis öffnete mir schlagartig die Augen, und ich begriff,
wie sehr ich, verdeckt von Liebe und Mitleid, meinen Vater verachtete.
Niemals wollte ich so werden wie er." (S. 81)
Kurz darauf erleidet der Vater einen Zusammenbruch, der jahrelange
schwere Alkoholismus fordert seinen Tribut, woraufhin er dauerhaft
krank geschrieben und ein Jahr lang in einem entlegenen Wohlfahrtsheim
untergebracht wird.
Fulgencio Putucás scheint wie vom Erdboden verschluckt, nur
einmal erkundigt sich eine Dame telefonisch bei der Mutter des
Ich-Erzählers nach dem Bischof, der sich sozusagen inkognito
als Hausbediensteter bei der Anruferin beworben hat.
Als sich nach der Rückkehr des Vaters aus dem Heim das
Familienleben unter neuen Vorzeichen weitgehend stabilisiert hat, kommt
es in einem Zelt am Hafen, worin der titelgebende Walkadaver zur Schau
gestellt wird, zu einer zufälligen Begegnung zwischen dem
Ich-Erzähler und Fulgencio. Dieser identifiziert sich mit dem,
wie er ihn nennt, "Leidensgenossen", dem Wal
nämlich, und betritt das Zelt jeden Tag auf der Suche nach
letztgültigen Antworten. Das anschließende
Gespräch zwischen den beiden Freunden entwickelt sich
völlig überraschend zur entlarvenden Lebensbeichte
des Bischofs ...
Ein Jahr danach, erneut ist es in Fulgencios Herkunftsland zu einem
Umsturz gekommen, erscheint der zwielichtige Bischof erneut auf der
Bildfläche und verkündet, unverzüglich
seiner Gemeinde beistehen und daher in seine Heimat reisen zu wollen.
Er holt sein bei der Familie des Ich-Erzählers verbliebenes
Bischofsgewand sowie sein Kreuz und seinen Ring aus dem Tresor des
Onkels ab, hält Tante Conchita ob ihrer Scheinheiligkeit eine
recht grobe Moralpredigt, erleichtert die Schockierte überdies
um die im Tresor befindlichen illegalen Devisen und entschwindet sodann
auf Nimmerwiedersehen.
Ab Seite 116 zieht der nunmehr im Ausland verheiratete
Erzähler rückblickend Bilanz, spekuliert
über den möglichen Verbleib des Bischofs, beleuchtet
knapp die Vergangenheit und Lebenseinstellung seiner mittlerweile
verstorbenen Tante Conchita, beschreibt kurz das weitere Schicksal
seiner Mutter nach dem Tod des Vaters, führt
schließlich die Fäden der Familie beim
Begräbnis der Mutter ein letztes Mal zusammen und muss
aufgrund der Verhältnisse feststellen: "Auf diese
Weise fiel die Sippe auseinander, die Tante Conchita mit so viel
Energie zusammengeschweißt hatte."
Die Entdeckung eines ganz speziellen Notizhefts unter den
Habseligkeiten der Verstorbenen liefert eine allerletzte
Überraschung, bevor der Ich-Erzähler Barcelona wieder
verlässt und zu seiner "neuen" Familie zurückkehrt ...
Eduardo Mendozas "Der Walfisch" ist stilistisch einfach gehaltene,
routiniert geschriebene Unterhaltungsliteratur. Die kurzweilige
Geschichte ist im spanischen Original übrigens in einem Band
mit drei Texten, der den Titel "Tres vidas de santos" trägt,
enthalten. Weshalb die deutschsprachige Ausgabe ohne die beiden anderen
auskommt, bleibt vermutlich ein Rätsel. Ein genaueres Lektorat
wäre erfreulich (gewesen), denn Fehler wie "Stiefkampfarena"
(S. 89) und
"Divisen" (S. 114) sind vermeidbar.
(kre; 03/2015)
Eduardo
Mendoza: "Der Walfisch"
(Originaltitel "La ballena")
Übersetzt aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold.
Nagel & Kimche, 2015. 125 Seiten.
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Eduardo
Mendoza wurde am 11. Jänner 1943 in Barcelona geboren. Er
studierte bis 1965 Jura und arbeitete kurze Zeit als Rechtsanwalt.
Danach war er von 1973 bis 1982 Dolmetscher bei der UNO in New York.
Bereits sein erster Roman "Die Wahrheit über den Fall Savolta"
wurde 1975 mit dem renommierten "Premio de la Critica" ausgezeichnet.
Der Barcelona-Roman "Die Stadt der Wunder" verhalf Mendoza 1986 zum
Durchbruch als international gefeierter Autor; das Buch wurde in mehr
als zwanzig Sprachen übersetzt. Für seinen
Roman "Katzenkrieg" erhielt Eduardo Mendoza im Jahr
2010 den höchstdotierten spanischen Literaturpreis, den
"Premio Planeta", sowie 2013 den "Europäischen Buchpreis"
für den besten Roman.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Der Friseur und die Kanzlerin"
Die Wirtschaftskrise hat Spanien fest im Griff, und die deutsche
Kanzlerin ist aufgrund ihrer rigiden Sparpolitik nicht gerade beliebt.
Doch als ein fast bankrotter Damenfriseur von den Plänen eines
Terroranschlags während ihres Besuchs in
Barcelona
erfährt, muss er in einem Wettlauf gegen die Zeit eingreifen.
Seine Schwester, die Ex-Prostituierte Cándida, soll ihm
dabei helfen und als perfekt frisierte Kopie von Doña Angela
am Flughafen mit der echten Kanzlerin vertauscht werden.
Eine geniale Satire über die Auswirkungen der Schuldenkrise
und ein rasant erzählter Kriminalroman, in dem Not viel mehr
als nur erfinderisch macht. (Nagel & Kimche)
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"Katzenkrieg"
Madrid im Frühjahr 1936. In der Stadt brodelt es: Kommunisten
wollen an die Macht, die faschistische Falange plant einen Putsch. Am
Vorabend des Bürgerkriegs reist ein englischer Kunstexperte
nach Spanien,
um ein verschollenes Bild von Velázquez
zu begutachten. Der
Auftrag ist brisant - mit dem Erlös des Verkaufs
könnten die Falangisten Waffen kaufen. Was für
Anthony Whitelands als kunsthistorisches Abenteuer beginnt, entwickelt
sich zur lebensgefährlichen Verfolgungsjagd durch Madrid.
(Nagel & Kimche)
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Leseprobe:
(...) Es kamen die
Jahre
des Kalten Kriegs, und obwohl Spanien politisch im
Abseits und somit eigentlich fein raus war, war meine
überängstliche Familie zutiefst besorgt, denn sollte
es zwischen den Supermächten zum Atomkrieg kommen, so ihre
Überzeugung, würde alles Leben auf der Erde
ausgelöscht werden, das galt auch für das
Ensanche-Viertel in Barcelona. Letztlich machte meiner Familie gar
nicht so sehr der Gedanke an den Tod zu schaffen, dafür waren
sie zu gläubig; hingegen hatten sie wirklich Angst davor, der
Roten Armee in die Hände zu fallen, das waren laut der
damaligen Propaganda bestialische Horden, getrieben von gnadenlosem
Fanatismus und unvorstellbarer Grausamkeit. Damals ging das
Gerücht um, dass die Kommunisten in ihren Straflagern
psychiatrisch motivierte Operationen durchführten, die
sogenannte Gehirnwäsche: Mit unmenschlichen Methoden pflanzten
eigens dafür ausgebildete Spezialisten ihren wehrlosen Opfern
eine Art Gehorsamkeitsmechanismus ins Gehirn ein, der später
beliebig aktiviert werden konnte. Auf diese Weise stellten sie
bedingungslose Spione und potentielle Greueltäter her, die um
so gefährlicher waren, als sie selbst sich nicht erinnerten,
manipuliert und zu wahren Zeitbomben gemacht worden zu sein.
Selbstverständlich deutete niemand etwas in diese Richtung an,
aber als die Sache mit der Gehirnwäsche durch die Presse ging
und später zum Stoff von Horrorfilmen wurde, nistete sich bei
unserer Familie gleich einer Larve, die ein Insekt bei einem arglosen
Sommergast unter der Haut ablegt, der Verdacht ein, etwas in der Art
könnte mit Onkel Víctor passiert sein, und auch
wenn es niemand offen aussprach, da Familien mit engem Zusammenhalt
sich alles Besorgniserregende durch Telepathie mitteilen, wuchs in den
Verwandten die Überzeugung, dass Onkel
Víctor bei
seiner Haft in der Checa de la Tamarita einer Gehirnwäsche
unterzogen worden war, was ihn jederzeit und an jedem Ort zur
Bedrohung
werden lassen konnte, es musste nur irgendwo ein Signal ausgesendet
werden, wenn er nicht schon von vornherein so programmiert worden war,
und aus dem antriebsärmsten Barcelonesen würde eine
unaufhaltsame Tötungsmaschine. Von diesem Moment an war alles,
was geschah oder geschehen war, nur ein weiteres Puzzlesteinchen in
einem diabolischen und perfekten Plan: die augenscheinliche
Willkür seiner Festnahme, der seltsame Umstand, dass man ihn
nicht in ein normales Gefängnis, sondern in eine Checa
gebracht hatte, obwohl diese Einrichtungen unbeugsamen politischen
Gefangenen vorbehalten waren, die Kürze seiner Haft und seine
einfache Befreiung, ganz zu schweigen von der angeborenen Dummheit
Onkel Víctors, die nicht etwa allen Verdacht zerstreute,
weil es als eher unwahrscheinlich gelten konnte, dass der
Oberste Sowjet Zeit und Wissen eines Spezialisten für eine
geistige Null vergeudete, anstatt seine Methoden an einem geeigneteren
Individuum anzuwenden, nein, man vertrat die Ansicht, dass
ausgerechnet
Onkel Víctors geringe Hirnmasse ihn für die
Operation prädestiniert hatte und dass er mit seinem
unscheinbaren Wesen und seiner bescheidenen Anstellung in einer
Briefmarkenhandlung von den Geheimdiensten unbemerkt bleiben
würde, er konnte sich also in der Bevölkerung und
selbst im Familienkreis unauffällig bewegen, bis er sich eines
Tages in ein Monster verwandeln würde. Im Grunde machte es
Tante Conchita nicht so viel aus, dass irgendein Verbrechen geschehen
konnte, der entscheidende Punkt war für sie, dass es von ihrem
eigenen Bruder ausgehen würde. Gleich zwei Dinge
kämpften in ihr gegeneinander: Da war zum einen die Angst,
eine menschliche Bombe zu Hause sitzen zu haben, und zum anderen die
feste Überzeugung, dass sich so viel Böses nicht
unverdient bei uns eingereiht haben konnte. Was ersteres betraf,
bereute sie es schon jetzt, dass sie die ehrenvolle Verpflichtung
angenommen und ein Quartier angeboten hatte für diesen Herren,
den Onkel Víctor, womöglich schon als Hinweis auf
die in irgendeiner Windung seines Hirns heranreifenden infernalischen
Pläne, gerade als "Bischof Kuhkaff" verunglimpft hatte.
Der illustre Gast hieß in Wirklichkeit Fulgencio
Putucás und war Bischof von San José de
Quahuicha, der Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts an der Grenze
zweier, damals noch unter dem gemeinsamen Namen
Centroamérica geläufiger mittelamerikanischer
Länder, und war zusammen mit Hunderten Bischöfen
aus
der ganzen Welt nach
Barcelona gekommen, um am Eucharistischen
Weltkongress teilzunehmen, der im Mai 1952 in unserer Stadt stattfand.
(...)