Ian McEwan: "Kindeswohl"
"Nach
meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine
Würde ..."
Ian McEwan wirft anhand realer britischer Gerichtsfälle Fragen
auf.
Das Warten auf jedes neue Buch des 1948 geborenen englischen
Schriftstellers lohnt sich, denn Ian McEwan legt mit
verlässlicher Regelmäßigkeit handwerklich
perfekte Romane vor, deren Zauber und sachlicher Präzision man
sich nicht entziehen kann. Er schreibt in einer verständlichen
Sprache ohne Schnörkel, analysiert kühl sowohl
gesellschaftliche Verhältnisse als auch menschliche
Beziehungen und Seelen.
So auch in "Kindeswohl", dessen eröffnende Sätze
typisch für McEwans Stil sind:
"London. Sonntagabend. Eine Woche nach dem Ende der
Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter. Fiona Maye, Richterin am High
Court, lag zu Hause auf der Chaiselongue und starrte über ihre
bestrumpften Füße hinweg quer durch den Raum."
McEwan geht sofort
mitten hinein in die Szene und
das Leben seiner Hauptpersonen. Fiona, 59 Jahre alt, hat soeben
einen
schrecklichen (und klischeehaften) Streit mit ihrem Mann, einem
sechzigjährigen Professor für Alte Geschichte, der
ihr ganz locker gesagt hat, er wolle eine Affäre mit einer
wesentlich jüngeren Frau beginnen, hinter sich gebracht. Das
sei sein Recht, er wolle noch einmal richtig erregenden Sex, an
dem sie
ja wohl kein Interesse mehr habe. |
"Am
Familiengericht wimmelte es
von seltsamen Meinungsverschiedenheiten, Berufungen auf
Sonderfälle, vertraulichen Halbwahrheiten und bizarren
Anschuldigungen. Und wie auf allen juristischen Gebieten
mussten
feinkörnige Einzelheiten der Sachverhalte im
Höchsttempo memoriert und verarbeitet werden. Vorige Woche
hatte sie die Schlussplädoyers im Scheidungsverfahren
jüdischer Eheleute gehört, die, in ungleichem
Maße orthodox, darüber stritten, wie ihre
Töchter erzogen werden sollten. Die Endfassung ihres Urteils
lag neben ihr auf dem Boden. Morgen würde eine verzweifelte
Engländerin erneut vor ihr erscheinen, hager, blass,
gebildet,
Mutter eines fünfjährigen Mädchens. Trotz
dem Gericht vorliegender gegenteiliger Zusicherungen war sie
überzeugt, dass der Vater, ein marokkanischer
Geschäftsmann und strenggläubiger Muslim, plante, die
gemeinsame Tochter der britischen Gerichtsbarkeit zu
entziehen und nach
Rabat zu verbringen, wo er ein neues Leben anfangen wollte.
Dazu die
üblichen Rangeleien um den Wohnort der Kinder, um
Häuser, Renten, Einkünfte, Erbschaften. Es waren die
größeren Vermögen, die vor dem High Court
landeten. Reichtum garantierte nur selten anhaltendes Glück.
Eltern
wurden sehr bald mit dem neuen Vokabular und den geduldigen
Mühlen der Justiz vertraut und fanden sich auf einmal, zu
ihrer Verblüffung, in erbitterter Fehde mit dem Menschen
wieder, den sie einmal geliebt hatten." |
Wie schon anno 2005 in seinem Roman "Saturday", (damals ging es
Gehirnchirurgie), von McEwan bis ins Kleinste recherchiert, wird der
Leser staunender Zeuge einer Verhandlung, eines juristischen Konflikts
um Leben und Tod, in dessen Verlauf schwerwiegende Entscheidungen
über Medizin,
Moral und
Ethik,
weltanschauliche Überlegungen und Religion zu treffen sind.
Die Zeit drängt, doch bevor Fiona ihr Urteil fällt,
nimmt sie ihr Recht wahr und besucht Adam in der Klinik. Als sie, aus
ihrer professionellen Rolle fallend, den Jungen singend begleitet, als
dieser ein von Benjamin Britten vertontes Gedicht von
Yeats auf seiner Geige spielt, passiert in der Beziehung der
beiden etwas Entscheidendes (und Verhängnisvolles), das den
weiteren Verlauf der Handlung wesentlich beeinflussen wird ...
Neben dieser sich langsam aufbauenden Dramatik beschreibt McEwan immer
wieder andere Gerichtsfälle (z.B. einen von siamesischen
Zwillingen),
in denen es um das "Kindeswohl" geht. So interessant
derlei auch ist, lenkt es doch ein wenig vom eigentlichen Thema ab,
nämlich, wie Fiona Maye die Begegnung mit dem jungen Adam
erlebt und bewältigt.
Fazit:
Bei aller Kritik an vorhandenen Schwachstellen: Ian McEwan hat erneut
einen gesellschaftlich-zeitgeistig interessanten Roman vorgelegt.
(Winfried Stanzick; 01/2015)
Ian
McEwan: "Kindeswohl"
(Originaltitel "The Children Act")
Übersetzt von Werner Schmitz.
Diogenes, 2015. 224 Seiten.
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