Ian McEwan: "Kindeswohl"


"Nach meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine Würde ..."
Ian McEwan wirft anhand realer britischer Gerichtsfälle Fragen auf.


Das Warten auf jedes neue Buch des 1948 geborenen englischen Schriftstellers lohnt sich, denn Ian McEwan legt mit verlässlicher Regelmäßigkeit handwerklich perfekte Romane vor, deren Zauber und sachlicher Präzision man sich nicht entziehen kann. Er schreibt in einer verständlichen Sprache ohne Schnörkel, analysiert kühl sowohl gesellschaftliche Verhältnisse als auch menschliche Beziehungen und Seelen.
So auch in "Kindeswohl", dessen eröffnende Sätze typisch für McEwans Stil sind: "London. Sonntagabend. Eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter. Fiona Maye, Richterin am High Court, lag zu Hause auf der Chaiselongue und starrte über ihre bestrumpften Füße hinweg quer durch den Raum."

McEwan geht sofort mitten hinein in die Szene und das Leben seiner Hauptpersonen. Fiona, 59 Jahre alt, hat soeben einen schrecklichen (und klischeehaften) Streit mit ihrem Mann, einem sechzigjährigen Professor für Alte Geschichte, der ihr ganz locker gesagt hat, er wolle eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Frau beginnen, hinter sich gebracht. Das sei sein Recht, er wolle noch einmal richtig erregenden Sex, an dem sie ja wohl kein Interesse mehr habe.

Fiona wirft ihren Mann aus dem Haus und ergeht sich in Überlegungen über den körperlichen Verfall im Alter. Doch für weiteres Selbstmitleid fehlt ihr die Zeit, denn es stehen wichtige Entscheidungen bei Gericht an: Etwa im Fall des siebzehnjährigen Adam, Sohn zweier Zeugen Jehovas, der an Leukämie erkrankt ist. Damit sein Leben gerettet werden kann, benötigt er dringend Bluttransfusionen. Diese Vorgangsweise lehnen aber sowohl seine Eltern als auch der Junge selbst mit Verweis auf ihre Religion heftig ab. Die Klinikverwaltung will per Gerichtsentscheidung erzwingen, dass Fiona dieses Recht auf körperliche Selbstbestimmung aufhebt.

 

"Am Familiengericht wimmelte es von seltsamen Meinungsverschiedenheiten, Berufungen auf Sonderfälle, vertraulichen Halbwahrheiten und bizarren Anschuldigungen. Und wie auf allen juristischen Gebieten mussten feinkörnige Einzelheiten der Sachverhalte im Höchsttempo memoriert und verarbeitet werden. Vorige Woche hatte sie die Schlussplädoyers im Scheidungsverfahren jüdischer Eheleute gehört, die, in ungleichem Maße orthodox, darüber stritten, wie ihre Töchter erzogen werden sollten. Die Endfassung ihres Urteils lag neben ihr auf dem Boden. Morgen würde eine verzweifelte Engländerin erneut vor ihr erscheinen, hager, blass, gebildet, Mutter eines fünfjährigen Mädchens. Trotz dem Gericht vorliegender gegenteiliger Zusicherungen war sie überzeugt, dass der Vater, ein marokkanischer Geschäftsmann und strenggläubiger Muslim, plante, die gemeinsame Tochter der britischen Gerichtsbarkeit zu entziehen und nach Rabat zu verbringen, wo er ein neues Leben anfangen wollte. Dazu die üblichen Rangeleien um den Wohnort der Kinder, um Häuser, Renten, Einkünfte, Erbschaften. Es waren die größeren Vermögen, die vor dem High Court landeten. Reichtum garantierte nur selten anhaltendes Glück. Eltern wurden sehr bald mit dem neuen Vokabular und den geduldigen Mühlen der Justiz vertraut und fanden sich auf einmal, zu ihrer Verblüffung, in erbitterter Fehde mit dem Menschen wieder, den sie einmal geliebt hatten."
(Aus dem Roman)

Wie schon anno 2005 in seinem Roman "Saturday", (damals ging es Gehirnchirurgie), von McEwan bis ins Kleinste recherchiert, wird der Leser staunender Zeuge einer Verhandlung, eines juristischen Konflikts um Leben und Tod, in dessen Verlauf schwerwiegende Entscheidungen über Medizin, Moral und Ethik, weltanschauliche Überlegungen und Religion zu treffen sind.

Die Zeit drängt, doch bevor Fiona ihr Urteil fällt, nimmt sie ihr Recht wahr und besucht Adam in der Klinik. Als sie, aus ihrer professionellen Rolle fallend, den Jungen singend begleitet, als dieser ein von Benjamin Britten vertontes Gedicht von Yeats auf seiner Geige spielt, passiert in der Beziehung der beiden etwas Entscheidendes (und Verhängnisvolles), das den weiteren Verlauf der Handlung wesentlich beeinflussen wird ...

Neben dieser sich langsam aufbauenden Dramatik beschreibt McEwan immer wieder andere Gerichtsfälle (z.B. einen von siamesischen Zwillingen), in denen es um das "Kindeswohl" geht. So interessant derlei auch ist, lenkt es doch ein wenig vom eigentlichen Thema ab, nämlich, wie Fiona Maye die Begegnung mit dem jungen Adam erlebt und bewältigt.

Fazit:
Bei aller Kritik an vorhandenen Schwachstellen: Ian McEwan hat erneut einen gesellschaftlich-zeitgeistig interessanten Roman vorgelegt.

(Winfried Stanzick; 01/2015)


Ian McEwan: "Kindeswohl"
(Originaltitel "The Children Act")
Übersetzt von Werner Schmitz.
Diogenes, 2015. 224 Seiten.
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