Henning Mankell: "Treibsand"
Was es heißt, ein Mensch zu sein
"Liebe
ist eine moderne Erfindung. Frühere Generationen waren vor
allem darauf bedacht, ihre Kinder in wirtschaftlich und sozial
günstigere Verhältnisse zu platzieren."
(Henning Mankell)
Als über die Medien bekanntgegeben wurde, dass Henning Mankell
an Krebs erkrankt sei, war ich sehr betroffen. Er gehört seit
vielen Jahren zum erweiterten Kreis meiner Lieblingsautoren. Im Laufe
der Zeit habe ich fast alles gelesen, was er geschrieben hat. Sogar
einige seiner Jugendromane. Mein erster Gedanke war: Wird sich Mankell
zurückziehen oder weiter schreiben? Doch es dauerte nur einige
Monate, bis ich einen Zeitungsartikel in die Hand bekam, in dem Henning
Mankell über sein Leben mit Krebs erzählt. Zudem
wurde bereits auf jenes Buch hingewiesen, das nun ins Deutsche
übersetzt vorliegt.
Der schwedische Autor und Erfinder der Figur Kurt Wallander hat keine
Autobiografie geschrieben. Wovon er ziemlich ausführlich
berichtet, sind Erkenntnisse, die er im Verlauf seines Lebens gewonnen
hat. Manches wird bei seinem Publikum Befremden auslösen. Er
ist sich selbst dessen bewusst, dass er einige Fehlentscheidungen
getroffen hat, an denen nicht zu rütteln ist. Heute
würde er wohl anders agieren. Aber es soll bei meiner
Auseinandersetzung mit diesem Buch nicht darum gehen, diese
befremdlichen Aspekte hervorzukehren. Wir Menschen sind alle
widersprüchlich. Drei Dimensionen sind es, welche Mankell
besonders wichtig sind:
Die Kunst. Henning Mankell stellt uns seine
Lieblingsbilder und -maler vor. Es sind fremdartige, ja schockierende
Gemälde darunter. Ein kleiner Bildteil ermöglicht es,
diese Bilder sozusagen im Kleinformat zu betrachten. Besonders angetan
hat es ihm ein Familienporträt, das Jonas Dürchs im
Auftrag von Pastor Gustav Fredrik Hjortberg anfertigte. Es zeigt die
gesamte Familie des Pastors. Das Bild ist einzigartig, weil es nicht
nur die lebenden Kinder der Familie, sondern ebenso die toten, zeigt.
Während die Lebenden gut sichtbar sind, haben die Toten eine
eigene Dimension. Vier Kinder schauen schüchtern zwischen den
Lebenden hervor, nur ihre Köpfe oder deren Ansätze
sind erkennbar. Ein Kind ist überhaupt nur mit dem
Rücken zum Betrachter zugegen. Zudem ist ein in einem
Totenbettchen liegender Säugling im Zentrum des
Gemäldes. Die weiblichen und männlichen Mitglieder
der Familie sind strikt getrennt. Der Entstehungszeitraum des
Kunstwerks fällt
in die 1770er-Jahre. Henning Mankell hat dieses ungewöhnliche
Familienporträt gleich in der Nähe seines Wohnortes
in der Kirche von Släp entdeckt und war von Anfang an
fasziniert davon.
Doch Mankell begibt sich ebenso auf die Spuren der
Höhlenmalerei oder erzählt von längst
verstorbenen und vergessenen Autoren, die er nie vergessen wird. Der
Tod ist oft das hervorstechende Thema.
Besondere Augenblicke. Jeder Mensch erlebt
Augenblicke, die sein Leben bereichern und stets in Erinnerung bleiben.
Sowohl traurige als auch schöne Momente. Henning Mankell ist
es ein Bedürfnis, viele dieser Augenblicke zu manifestieren
und seiner Leserschaft vorzustellen. Wer den wohl eindrucksvollsten
Augenblick im Leben des Henning Mankell erfahren will, dem bleibt
nichts Anderes übrig, als das gesamte Buch zu lesen. Wie
überhaupt dieses Buch, obzwar es aus vielen kleinen Kapiteln
besteht, nur in der Gesamtschau ein wenig Licht in das Leben des Autors
bringen mag.
So ist ein grauenhafter Unfall, dessen Zeuge Mankell geworden ist, und
der hier bewusst von mir nicht geschildert wird, mit Sicherheit ein
essenzieller Kernpunkt dieser Nicht-Autobiografie.
Was wird der Mensch der Gegenwart hinterlassen?
Zweifellos ist in erster Linie die Beschäftigung mit dem
Mensch-Sein an sich und der Frage, was der Mensch der Gegenwart
nachfolgenden Generationen hinterlassen wird, so etwas wie der
Grundtenor des Buches. Hierbei spielt der Atommüll, der
100.000 Jahre braucht, bis er verrottet, eine Hauptrolle.
Überhaupt ist das Thema Zeit
für Mankell ein ständig wiederholtes Mantra. Der
Mensch lebt "zufällig" da und dort, er ist für einen
kleinen Moment Teil der menschlichen Gesellschaft, um bald wieder aus
ihr zu verschwinden. Das klingt sehr dramatisch, für den Autor
ist es aber logisch und einfach der Lauf der Natur.
Diese drei Dimensionen verbinden sich mit allerlei Gedankenexperimenten
und inneren Erkenntnissen. Henning Mankell gehört zu jenen
Zeitgenossen, die den Menschen - und damit im Grunde die gesamte
Schöpfung - als Ergebnis biochemischer Prozesse einordnet. Er
meint sogar, dass es gar nicht einmal schlimm wäre, sich diese
Tatsache bewusst zu machen. Metaphysische Erfahrungen mögen
für Mankell also "Zauberei" sein, auch wenn er dies nicht zur
Sprache bringt. Er ist davon überzeugt, dass "Zufall" und
"Glück" bestimmende Faktoren des menschlichen Lebens sind.
Schnell hat er gelernt, seine Krebserkrankung zu akzeptieren und das
Beste aus seiner Situation zu machen. Vier Chemotherapien hat er hinter
sich gebracht, und es scheint ihm durch diese Behandlungen besser zu
gehen. Die Metastasen sind jedenfalls vorläufig
zurückgegangen. Henning Mankell weiß aber, dass dies
keine Garantie dafür ist, den Krebs
in Schach gehalten zu wissen.
Wer dieses Buch liest, und auch "Mankell
über
Mankell" kennt, wird Parallelen finden. Es ist
zu hoffen, dass es sich nicht um das letzte Werk von Henning Mankell
handelt. Der widersprüchliche Charakter des weit über
Schweden hinaus bekannten Autors wird auf eine Weise offenbar, die
nicht immer leicht zu verkraften ist. Dennoch setzt er auch in diesem
Werk Glanzlichter, bringt Gedanken ein, die weit über das Buch
hinaus nachwirken.
(Jürgen Heimlich; 09/2015)
Henning
Mankell: "Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu
sein"
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Zsolnay, 2015. 384 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen