Michael Kleeberg: "Vaterjahre"


"Charly" ist erwachsen geworden

Michael Kleeberg ist unbestreitbar einer der interessantesten deutschen Schriftsteller der mittleren Generation, sein "Amerikanisches Hospital" ein Meisterwerk. Im Jahr 2007 erschien der Roman "Karlmann", in dem "Charly" Karlmann Renn das (meist gar nicht so spannende) Leben eines Mannes in der Mitte der Achtziger des vorigen Jahrhunderts mit dem teils frustrierten, meist aber gespannt lesenden Lesers in der Mitte der zweiten Dekade des neuen Jahrhunderts teilt. Da, wo in "Karlmann" die Nostalgiepunkte die Oberhand behalten (wer hat damals, am 7. Juli 1985 nicht dem jungen, rothaarigen deutschen Tennisspieler Boris Becker die Daumen gedrückt, als er Wimbledon und die Herzen aller Tennisfans gewonnen hat?), verzettelt sich Michael Kleeberg in "Vaterjahre" im Innenleben eines mittlerweile in die Jahre gekommenen Mannes, der seit 1985 zwar finanziell gewonnen hat und sozial aufgestiegen, seit damals allerdings aber offensichtlich nur geringfügig gereift ist.

"Vaterjahre" ist ein Roman der heute fünfzigjährigen Männer (bzw. soll dies sein), vermutet der Rezensent, und beschäftigt sich mit 1990er-Jahren bis hin zu 9/11. Der aus einer hanseatischen Kaufmannsfamilie stammende "Charly" hat nun mehr oder weniger alles erreicht: eine standesgemäße Gattin, zwei perfekte Kinder, einen lukrativen, wenngleich auch eher öden Broterwerb, ein schönes Heim und viele oberflächliche Freunde. Was auf der einen Seite enormen Leistungs- und Erfolgsdruckdruck, verbunden mit geschäftlicher Härte, bedeutet, führt auf der anderen Seite zu gähnender innerer Leere. Sensibilität für die Kinder aufzubringen fällt ihm schwer, auch wenn ihn die Kinder gerade jetzt bräuchten, wo der Familienhund im Sterben liegt.

Und da dem Roman keine wirkliche Handlung oder Geschichte zugrunde liegt, nimmt Michael Kleeberg die Situation zum Anlass, um mittels Einschüben und Rückblenden virtuos die gesamtdeutsche Geschichte und 9/11 miteinfließen zu lassen.

Ausgangssituation dieses Textes ist eine Szene, in der Karlmann Renn von seiner Angst überwältigt wird. Mitten auf der Hamburger Köhlbrandbrücke kann er plötzlich nicht weiterfahren, nässt sich ein und muss von seiner Frau abgeholt werden. Dieses Ereignis brennt sich in seine Erinnerung als peinlichster Moment seines Lebens ein und soll vermutlich erklärend für die menschlichen Unzulänglichkeiten des Protagonisten sein.

Das funktioniert auch blendend, denn die Leere, das absolute Neben-Einander-Leben und die unumstößliche Egozentrik, die dem Protagonisten eigen ist, steht doch irgendwie symbolisch für den Prototyp der Generation der alt gewordenen Mittfünfziger (und nicht nur dieser).

Eine weitere Konstante in diesem Roman ist die kompetitive Freundschaft mit Kai, eine "echte" Männerfreundschaft, mit Geheimnissen, Wettbewerb und allem, was da sonst noch dazu gehört.

Immer wieder gelingen ausgezeichnete Momente, die in Erinnerung rufen, warum man bisher zu allen Romanen aus der Feder dieses Autors gegriffen hat, wie zum Beispiel die Bemerkung, dass, wenn man der Kindheit entwachsen ist, die Schlaglichter von Schmerz, Leid und Tod dazu führen, dass jedes gegenwärtige Glück einen schwarzen Rahmen bekommt, ohne den man Glück fast nie mehr haben kann.

Klug und nachdenklich stimmend auch die Gedanken zur Frage, warum Ehen scheitern, während die Gedanken an Sex mit einer der anwesenden Frauen beim Anblick der sechsjährigen Tochter doch mehr als befremdlich wirken. Überhaupt denkt "Charly" viel über Sex mit fremden Frauen nach, wobei erwähnt werden muss, dass es sich auch hier um reine Hirngespinste oder auch Wunschgedanken handelt, denn weiter als bis zu Gedankenspielen geht auch das nicht.

Während man sich als Leser teilweise verzweifelt durch dieses teils brillant, teilweise bewusst unsinnigerweise übertrieben vertrackt komponierte Buch müht, man lese zur Einstimmung die ersten vier bis fünf Seiten, fragt man sich immer wieder: Ist das den Aufwand überhaupt wert? Den schöpferischen und den rezipierenden Aufwand, wohlgemerkt. Ja, ist es, denn "Charly" Renn Karlmann ist ein Symbol unserer Zeit, und Michael Kleeberg kann schreiben, und wie. Lesevergnügen ist dieser Roman keines, definitiv nicht. Erleuchtung und Erkenntnisse wird man, falls man sie sucht, hier nicht finden. Konstant schwankt man zwischen Weglegen und Durchhalten, zwischen Abneigung und gebanntem Weiterlesen.

Nichtsdestotrotz, "Vaterjahre" ist ein extrem ambivalentes Werk. Es gelesen zu haben, füllt keine Lücken. Es beruhigt aber. Irgendwie. Auch wenn man sich eigentlich nicht erklären kann, warum.

(Roland Freisitzer; 05/2015)


Michael Kleeberg: "Vaterjahre"
DVA, 2014. 499 Seiten.
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