Tanja Kinkel: "Schlaf der Vernunft"


Ex-Opfer gibt es nicht

Auch wir leben in einer Zeit, in der sich die Menschen beim Hören und Sehen der Nachrichten immer wieder fragen, was andere - zumeist junge - Menschen dazu bringt, sich zu radikalisieren und wegen einer politischen Ideologie oder Religion andere Menschen zu töten und ihre Angehörigen ins Elend zu stoßen. Häufig bekommen wir durch die Presse dann auch die Sichtweisen ihrer nächsten Angehörigen präsentiert.
Ihre Opfer - und deren Angehörige - geraten dabei meist schnell in Vergessenheit; besonders, wenn es sich um sogenannte "Kollateralschäden" handelt oder um "legitime Sekundärziele", wie etwa Personenschützer oder Fahrer der prominenteren "Primärziele", deren Namen auch in der Regel im Gedächtnis bleiben und im Jahres-, Fünfjahres-, Zehnjahres- und so weiter -Takt wieder in den Medien erscheinen. Am Rande werden erneut die "legitimen Sekundärziele" genannt (vielleicht sogar ihre Angehörigen), aber eigentlich stehen immer die Täter im Vordergrund der Berichterstattung.

Angelika Limacher ist die Frau eines erfolgreichen Zahnarztes und Mutter zweier Kinder, die sich ganz gut damit eingerichtet zu haben scheint, dass ihre Mutter - Martina Müller - in den 1970er-Jahren als Mitglied der zweiten Generation der "RAF" an einem Anschlag beteiligt war und sich nun seit gut zwanzig Jahren in Haft befindet. Doch im Zuge des Mauerfalls und des Kinkel-Erlasses nach dem Gewaltverzichtsversprechen der letzten Generation der "RAF" steht sie nun ganz unerwartet der vorzeitigen Entlassung ihrer ihr entfremdeten Mutter gegenüber.
Wie soll sie mit dieser Frau, die sich nach einiger Zeit alle Besuche ihrer kleinen Tochter verbeten hatte und ihre Taten nie bereut hat, umgehen? Soll sie dies überhaupt versuchen?

Doch auch einer der damaligen Personenschützer, der mit Gedächtnislücken aus dem Koma aufgewacht ist, der Sohn eines anderen Personenschützers und schließlich auch der Sohn des damaligen "Primärziels" beginnen sich anlässlich der bevorstehenden Entlassung dieser Frau, die so maßgeblich ihre Lebensläufe beeinflusst hat, allerlei Fragen zu stellen. Fragen zu Schuld und Unschuld, zu ihrer eigenen möglichen Verantwortung an den Vorfällen und dazu, was sie jetzt machen sollen, da "diese Frau" nicht mehr geschützt hinter Gefängnismauern sitzt.

Im Zuge der Antwortfindung dieser und einiger anderer Personen wird versucht, die Geschichte der "RAF" aufzuarbeiten und dies in erster Linie durch die Augen der zu Beginn siebzehnjährigen Martina Müller, die bei einer Klassenfahrt nach Berlin den Schah und seine Frau bewundern wollte und unversehens in eine von der Polizei verdeckt organisierte Gegenreaktion wider Proteste gegen den Besucher im Land verwickelt wird. Die dabei erfahrene Hilflosigkeit und das Gefühl, feige gewesen zu sein, sollen danach eine der Haupttriebfedern ihres weiteren Handelns werden, bis sie eines Tages in einem palästinensischen Ausbildungslager im Jemen erstmals eine geladene Waffe auf einen hilflosen Menschen richtet - und abdrückt.

Die Vergangenheit aufzuarbeiten ist schwierig; besonders eine Vergangenheit, die anscheinend durch die damalige Pressereaktion und die darauffolgende Geschichtsschreibung in den Medien eine wesentlich größere Dimension bekommen hat, als sie sie eigentlich haben sollte. Die im Roman vorgenommene und wohl ziemlich realistische Darstellung der Gespräche und Debatten in den Kreisen der Radikalen Linken der damaligen Zeit lassen einen heutzutage nur noch den Kopf schütteln, bis man in den Nachrichten wieder einmal sieht, wie ein junger Mensch mit einer Sprengstoffweste in einen vollbesetzten Bus gestiegen ist - bzw. sieht man den Bus nachher.

Wie viele politische Erzählungen aus den 1970er-Jahren ist auch dieser Roman ein wenig zäh zu lesen und trifft damit den Zeitgeist eigentlich ziemlich genau. Zumindest den Zeitgeist in bestimmten Kreisen, denn die "RAF"-Angehörigen mussten schließlich lernen, dass sich das "Volk" durch sie nicht vertreten gefühlt hat. Wer sich in den 1980er-Jahren in der linken Szene und in der Dritten-Welt-Bewegung umgetan hat, der kennt die Gesprächsmuster, die hier immer wieder gezeigt werden und mag sich ein wenig innerlich krümmen, wenn er sich daran erinnert, wie er oder sie an diesen Gesprächen teilgenommen hat.

Interessant ist auch die sehr vielschichtige und multiperspektivische Darstellung der Gefühls- und Gedankenwelt der Opfer- und Täterangehörigen gegen Ende der 1990er-Jahre. Hier zeigt sich neben dem Versuch, die "Altvorderen" zu verstehen, auch wiederholt ein kritisches Hinterfragen derer Aussagen sowie jener der damaligen Medien und auch der eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen, sodass Angelika und ihre Zeitgenossen die wohl plastischsten Charaktere dieses Romans darstellen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 11/2015)


Tanja Kinkel: "Schlaf der Vernunft"
Droemer, 2015. 448 Seiten.
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Frank Witzel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969"

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