Maylis de Kerangal: "Die Lebenden reparieren"
Umgehen
mit der Extremsituation
"Die Lebenden reparieren" ist Maylis de Kerangals zweiter ins Deutsche
übersetzte Roman und beschäftigt sich mit einem
bisher in der Literatur nur selten erscheinenden Thema: Der
Organtransplantation. Anders als in Kazuo Ishiguros
großartigem Roman "Alles, was wir geben mussten", der sich
mit den Machenschaften in einem englischen Heim beschäftigt,
in dem Kinder als Organspender herhalten müssen, beschreibt
Maylis de Kerangal den Extremzustand eines einzigen Tages. Der
Rezensent geht davon aus, dass der im Titel versteckte Verweis auf
Anton
Tschechows "Platonow" kein Zufall ist.
Simon ist zu Tagesbeginn mit seinen Freunden unterwegs. Man geht
surfen, versucht, die atemberaubenden Wellen bestmöglich zu
erwischen. Die Stimmung ist ausgezeichnet. Auf dem Heimweg passiert der
Unfall, bei dem Simon mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe kracht
und der ihn in den Zustand des irreversiblen Komas versetzt. Sein Herz
schlägt weiter, sein Hirn ist tot.
"... es hat sich herausgestellt, dass der Wagen keine Airbags
besaß, das Modell war zu alt dafür, und dass von den
drei Insassen auf dem Vordersitz nur zwei angeschnallt waren, die
beiden, die an den Türen saßen, auf der Fahrerseite
und auf der Beifahrerseite; der dritte Insasse, der in der Mitte, so
hast sich weiter herausgestellt, ist durch den Aufprall nach vorn
geschleudert worden und mit dem Schädel gegen die
Windschutzscheibe gekracht, zwanzig Minuten hat es gedauert, bis man
ihn aus dem Wrack befreit hatte, er war ohnmächtig, als der
Rettungswagen eintraf, doch das Herz schlug noch, und da man in seiner
Jackentasche seinen Kantinenausweis fand, wusste man, dass er Simon
Limbres heißt."
Und so beginnt ein Tag, der für alle Beteiligten entscheidend
ist. Die französische Schriftstellerin wechselt
ständig die Erzählperspektive und nimmt kühl
und präzise alle Positionen ein. Und genau das, also die
kühle, fast sachliche Poesie ihrer Sprache, ausgezeichnet von
Andrea Spingler übersetzt, treibt diesen starken und
ausgezeichnet recherchierten Roman unentwegt an.
Maylis de Kerangal lässt alle zu Wort kommen und ihr Wissen
preisgeben, nur um im nächsten Moment einen Haken zu schlagen
und eine ganz andere Perspektive ebenso plausibel und
überzeugend auf den Leser wirken zu lassen. Vom schrulligen
Stationsarzt bis zum an aktuellen Fußballergebnissen
interessierten Herzchirurgen und der Pflegekraft, die jede Pause zum
Dokumentieren ihrer Knutschflecke nutzt, vom Opfer Simon Limbres bis
zum sehnsüchtig wartenden Empfänger des Herzens, von
Simons Eltern, die nicht glauben wollen und können, dass ihr
so friedlich schlafender Sohn tot sein soll, obschon sein Herz weiter
schlägt. Auf diesem Weg schafft sie es, den Leser atemlos
durch diese vierundzwanzig Stunden mitzunehmen.
Man ist allwissend dabei, im Hintergrund, wenn die Maschinerie bereits
mit den Vorbereitungen begonnen hat, mit der Planung und der
Koordination, lange bevor Simons Eltern ihre Zustimmung zur
Transplantation gegeben haben. Man erlebt die Zweifel der Eltern ebenso
wie die starke Gegenwelt zu diesem Leben, das sich die beteiligten
Ärzte,
Chirurgen und spezialisierten Pfleger geschaffen haben,
um mit diesem täglichen Wechselspiel zwischen viel Leid und
ebenso viel Freude umgehen zu können. Die Eltern, ebenso wie
Simons Freunde, die naturgemäß alle zum ersten und
wahrscheinlich letzten Mal mit einer solchen Situation konfrontiert
sind, hatten keine Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten.
Aus dieser vermeintlichen Diskrepanz der Gefühlswelten
schöpft die französische Autorin ein Maximum an
Intensität, die sie in ganz unterschiedlichen Szenen,
Gedankenmonologen, Überlegungen, Rückblenden in ein
Ganzes fließen lässt.
"Die Nacht bricht herein. Das Stadion am Ende der Avenue ist
erleuchtet, und sein langgezogenes Rund - eine Bohne - erzeugt am
Himmel einen gräulichen Lichthof, den die sonntagabendlichen
Flugzeuge durchqueren. Es ist jetzt Zeit, sich den Wartenden
zuzuwenden, die über das Land verstreut sind, manchmal noch
jenseits der Landesgrenzen, Menschen, die entsprechend dem
benötigten Organ auf Wartelisten stehe und die sich jeden
Morgen beim Aufwachen fragen, ob ihr Platz sich verändert hat,
ob sie aufgerückt sind auf der Liste, Menschen, die keinerlei
Zukunft planen können und ihr Leben eingeschränkt
haben, abhängig vom Zustand ihres Organs."
Und ohne das offensichtlich zu tun, ist dieses Buch ein eindringlicher
Diskurs über das Für und Wider der
Organtransplantation. Die durch die Technik und Medizin
möglich gewordene Reparatur der durch ein fehlerhaftes Organ
beeinträchtigt Lebenden, ermöglicht durch die
Entnahme eines lebensfähigen Organs aus dem Körper
einen bereits hirntoten Menschen, der soeben, wie jedermann,
Pläne hatte, Spaß hatte und nur durch eine kleine
Unachtsamkeit zu dem wurde, was er jetzt auf dem Operationstisch ist:
ein menschliches Ersatzteillager, das, selbst nicht mehr
lebensfähig, Anderen die Lebensfähigkeit
zurückgeben kann.
Am Ende wird um vier Uhr morgens der Operationssaal
aufgeräumt, die Ärzte gehen müde nach Hause,
und der Körper einer Frau namens Claire beginnt, sich an das
neue Herz
zu gewöhnen, das ab jetzt die Hoheit in diesem
Körper trägt.
Ein wirklich großartiger Roman, der nicht nur besonders
lesenswert ist, sondern auch gleichzeitig viele Fragen aufwirft und das
Denken anregt. Ein Roman, der noch lange nach dem Lesen nachwirkt.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 06/2015)
Maylis
de
Kerangal: "Die Lebenden reparieren"
(Originaltitel "Réparer les Vivants")
Aus
dem Französischen von Andrea Spingler.
Suhrkamp, 2015. 255 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Kazuo Ishiguro: "Alles, was wir geben mussten"
Ein großer Sportplatz, freundliche Klassenzimmer und
getrennte Schlafsäle für Buben und Mädchen -
auf den ersten Blick scheint Hailsham ein ganz gewöhnliches
englisches Internat
zu sein. Aber die Lehrer, so engagiert und
freundlich sie auch sind, heißen hier Aufseher, und sie
lassen die Kinder früh spüren, dass sie für
eine besondere Zukunft ausersehen sind. Dieses Gefühl
hält Kathy, Ruth und Tommy durch alle Stürme der
Pubertät und Verwirrungen der Liebe zusammen - bis es an der
Zeit ist, ihrer wahren Bestimmung zu folgen ...
(btb)
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