Karin Kalisa: "Sungs Laden"
Berliner
Luft
"Sungs Laden" heißt der Debütroman der 1965
geborenen Autorin Karin Kalisa, der sich wohltuend zwischen Berlin und
Vietnam bewegt. Karin Kalisa, die bisher in Hamburg, Bremerhaven, Wien
und Tokio gelebt hat, lässt hier auf sehr sympathische Art und
Weise jene Erfahrungen einfließen, die sie auf ihrem
Lebensweg bereits gemacht hat.
Herr Sung, eigentlich studierter Archäologe,
dessen Eltern vor
seiner Geburt bereits in die ehemalige
DDR
gekommen sind, betreibt am Prenzlauer Berg in Berlin einen
Gemischtwarenladen, den er von seinem Vater übernommen hat.
Hier gibt es wirklich alles, was man im Alltag so braucht. Einer der
letzten Läden dieser Art, die von den großen
Supermarkt- und Mediaketten sukzessive in den Ruin getrieben
werden.
Ein Laden, der jeden Besucher mit "aus dem Hut gezauberten" Artikeln
überraschen kann.
Sein Sohn Minh geht in eine Schule, die sich dadurch auszeichnet, dass
dort Kinder aus aller Welt die Schulbank drücken. Für
das Weihnachtsfest sollen alle Kinder das Kulturgut ihres
Herkunftslandes präsentieren. Herr Sung kommt nun ein wenig in
die Bredouille, da ihm außer einer etwas peinlichen
Winke-Katze und einem nicht besonders aufregenden Plastikwindrad nichts
einfällt. Er schickt Minh zur Großmutter, die von
allen Familienmitgliedern doch die längste Zeit in Vietnam
gelebt hat.
"Die Lehrerinnen waren überarbeitet, aber nicht
begriffsstutzig. Sie hatten verstanden. Keine von ihnen hatte je eine
Vertragsarbeiterin aus Vietnam mit Namen gekannt, aber sie alle
wussten
sofort, dass die Frau dort oben neben dem kleinen Minh eine war, eine
gewesen war, besser gesagt, denn den Vertragspartner DDR gab es schon
lange nicht mehr. War die Geschichte mit dem Kind wahr? Konnte doch
sein, oder? Es rumorte in ihren Köpfen. Sie wussten nicht,
wohin mit ihrer Unruhe, und griffen wieder zur Kaffeetasse."
Natürlich hat die Großmutter eine brillante Idee:
Sie stellt sich selbst samt einer alten vietnamesischen Holzpuppe zur
Verfügung und begleitet den Enkelsohn in die Schule. Mit ihrer
Darbietung wird sie zur Sensation des Festes. Die Darbietung
verändert alles, denn von diesem Augenblick an ist am
Prenzlauer Berg nichts mehr, wie es vorher war.
Die Menschen haben plötzlich Interesse aneinander gefunden,
verlassen die Anonymität der Großstadt,
interessieren sich für die Kultur, die Traditionen, die
Lebenswege und die Umgangsformen der Anderen.
Überraschende Wendungen treten ein, wenn ein Zahnarzt
plötzlich kostenlosen Sonntagsdienst für Patienten
aus Fernost versieht, wenn eine spontane Alltagsrevolution stattfindet,
auf der man die Hò-Chí-Minh-Flagge findet, oder
gar Parkraumwächter nur mehr in vietnamesischen
Kegelhüten herumlaufen. Dass dann auch noch
Bambusbrücken die Mietshäuser verbinden, ist nur mehr
ein kleiner Schritt.
"Die Affenbrücken wurden später in vielen
großen Städten kopiert. Erst in
London, Paris und
Prag, später
auch in New York, Sydney, Hongkong und Tokyo.
Aber nie wieder waren sie von einer so leichtfüßigen
Anarchie wie in jenen Tagen in Berlin. Es war, als habe die Natur
selbst Regie führen wollen. Als habe sie mit ihrem
frühherbstlichen Altweibergespinst, das lange Fäden
von Hecke zu Hecke, von Ampeln zu Verkehrschildern zog, ein Modell
abgeben wollen für das zartzähe Taugeflecht, mit dem
die jungen Männer die Stadt verspannten."
Sungs Laden ist das Zentrum dieser wilden, sympathischen
Veränderung in
Berlin,
wo man eigentlich schon fast vermeint, das Lied "Berliner Luft" nach
einer gehörigen Luftveränderung wahrzunehmen,
nämlich versetzt mit Pentatonik und nicht nur als Lied,
sondern als "Nhac Tai Tu" (eine besonders freudige und lebendige
vietnamesische Art des Musizierens) zu einem gewaltigen Rundtanz
gesteigert.
Zwischen den aktuellen Ereignissen wechselt Karin Kalisa immer wieder
rückblickend zur Geschichte der Vorfahren von Herrn Sung, um
am Ende dann das Geheimnis seiner Herkunft zu lüften. Das ist
alles klug und überschaubar strukturiert, auch formell
funktioniert der Roman einwandfrei.
Karin Kalisa hat mit "Sungs Laden" einen erfreulich frohen, wirklich
gute Laune machenden Roman geschrieben, der sich, gerade in Zeiten wie
diesen, auf äußerst gelungene Art und Weise
für ein Miteinander ausspricht, der erfolgreich zu zeigen
versucht, dass Ablehnung und Misstrauen vor dem Fremden per se nicht
notwendig sind und dass nichts, aber auch gar nichts, über ein
friedliches Miteinander geht.
Ihre Prosa liest sich gut und flüssig, ist abwechslungsreich
und erfrischend leicht, was diesen Roman, der immer wieder fast
überdreht gute Laune verbreitet, zu einem sehr erfreulichen
Ereignis werden lässt.
Herrlich frische, gute Unterhaltung auf hohem Niveau.
(Roland Freisitzer; 07/2015)
Karin
Kalisa: "Sungs Laden"
C.H. Beck, 2015. 250 Seiten.
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